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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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entsteht ein Gemenge, dann teilt sich der Pulk und lässt eine weiße Frau durch, eine kräftige Mittfünfzigerin, strohblond, und es ist, als brächte mir die Vorsehung mit einem einzigen Fingerschnipsen die ganze mir vertraute Menschheit zurück. Ich hätte mich ihr fast an den Hals geworfen, doch ihr argwöhnischer, ja geradezu feindseliger Gesichtsausdruck bremst mich.
    Â»Wer sind Sie?«, fragt sie uns auf Englisch, mit starkem skandinavischem Akzent. »Und was wollen Sie hier?«
    Â»Wir haben uns verirrt«, erklärt Bruno ihr. »Wir laufen schon seit Tagen orientierungslos durch die Wüste.«
    Â»Wenn das so ist, warum sind Sie dann bewaffnet?«
    Â»Man hatte uns als Geiseln genommen, wir sind geflohen und wissen jetzt weder, wo wir sind, noch, wohin wir gehen könnten.«
    Er streckt ihr eine Hand entgegen, die in der Luft hängenbleibt.
    Â»Mein Name ist Bruno, ich bin Anthropologe, und das hier ist Doktor Krausmann.«
    Die Frau mustert uns eine Weile, dann sagt sie spitz:
    Â»Lotta Pedersen, Gynäkologin.«
    Sie bittet die anderen, wieder an ihre Plätze zu gehen, und macht uns mit dem Kopf ein Zeichen, ihr zu folgen. Sie bringt uns zu einer anderen, jüngeren weißen Frau, die unter einem Dach aus Zweigen geschlafen hat. Die scheint hier die Verantwortung zu tragen und empfängt uns ein wenig zuvorkommender.
    Â»Ich bin Doktor Elena Juarez«, stellt sie sich vor, während sie uns freundlich die Hand drückt.
    Drei Afrikaner kommen dazu, zwei von ihnen in weißen Kitteln mit einem roten Kreuz auf der Brusttasche. Sie stellt sie uns vor. Der jüngste ist Doktor Orfane. Er ist groß und schlank, Typ hübscher Junge; mit seiner Nickelbrille wirkt er wie ein jugendlicher Filmstar. Die beiden anderen, Omar und Samuel, Mittdreißiger, sind Krankenpfleger.
    Bruno berichtet im Zeitraffer von unserer Gefangenschaft und den Umständen, unter denen wir uns von unseren Entführern abgesetzt haben, bevor unser gestohlener Pick-up dann den Geist aufgab. Den dramatischen Zwischenfall mit Joma übergeht er. Elena Juarez erklärt uns ihrerseits, wie es kam, dass sie sich, während ihre Gruppe eigentlich nur eine Impfkampagne durchführte, unerwartet an der Spitze eines Flüchtlingstrupps wiederfand. Nachdem sie die Gynäkologin Lotta Pedersen und den Virologen Orfane in einem Stammesdorf abgesetzt hatte, war sie in Begleitung der beiden Krankenpfleger zum Nachbardorf aufgebrochen, um sich über den Gesundheitszustand der Bewohner zu informieren. Unterwegs wurde ihr Landrover von einer Antipersonenmine außer Gefecht gesetzt. Dann wurden sie von bewaffneten Männern durch den Busch gehetzt und hatten es nur dem Einbruch der Nacht und dem einmaligen Orientierungssinn ihres Fahrers Jibreel zu verdanken, dass sie mit dem Leben davonkamen. Als sie im Nachbardorf anlangten, fanden sie die Familien dort im Schockzustand. Es hieß, ein Rebellenangriff stehe unmittelbar bevor. Es war keine Zeit zu verlieren. So also kam es, dass das Grüppchen der Mediziner seit fast einer Woche mit rund vierzig Flüchtlingen am Hals durch den Busch streift. Ich frage die Frau Doktor, ob sie wenigstens wüssten, wo ihr Ziel sei; sie versichert mir, dass die Gruppe in der Person des Fahrers über einen ausgezeichneten Führer verfüge und sie in drei bis vier Tagen, wenn nicht noch etwas Unerwartetes geschehe, wieder im Camp sein würden, ­einem Aufnahme- und Sammellager unter Leitung des Roten Kreuzes.
    Â»Anfangs waren wir nur achtundzwanzig Leute«, erklärt Elena Juarez. »Dann haben sich uns noch andere Flüchtlings­familien angeschlossen. Gestern hatten wir den Verlust zweier entkräfteter alter Frauen zu beklagen, die vor Erschöpfung gestorben sind.«
    Ein Mann taucht vor uns auf, mit völlig verdrehten Augen. Er trägt einen Anzug, der auch schon bessere Zeiten gesehen hat, und das Jackett über dem nackten, eingefallenen Bauch klafft weit auf. Mit anklagendem Zeigefinger ruft er den Himmel zum Zeugen, dann deklamiert er mit Grabesstimme:
    Â»Sie kamen im Morgengrauen. Sie haben unsere Hütten verbrannt, haben unsere Ziegen, unsere Esel und Hunde erschlagen, uns dann auf dem Dorfplatz zusammengetrieben und begonnen, uns zu töten, den Vater vor den Augen seiner Kinder, den Säugling im Arm seiner Mutter. Wäre der Teufel an jenem Tag unter ihnen gewesen, er hätte sich schnellstens in

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