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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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entscheiden, was er jetzt zu unternehmen gedachte. Wie sollte er
     sich angesichts dieser metaphysischen Ethik verhalten, die sich da andeutete? Welches der Leben, die vor seinen Augen abzweigten,
     sollte er leben; welches war der Weg, den er einschlagen sollte? Gab es eine Möglichkeit, das herauszufinden? Er wusste es
     nicht. Nach der Theorie der multiplen Welten würden die der Vergangenheit zugefügten Veränderungen nicht die Gegenwart betreffen,
     sondern eine alternative Gegenwart schaffen, eine neue Linie, die parallel zur ursprünglichen verlief, welche davon unberührt
     blieb. Demnach war die schöne Botin, die durch die Zeit gereist war, um ihm den Brief zu übergeben, in einer Parallelwelt
     zu ihm gekommen, denn in der ursprünglichen hatte niemand vor seiner Haustür auf ihn gewartet, was bedeutete, dass, auch wenn
     er nicht zu der Verabredung ging, er dies in der Welt, in der er den Brief nicht bekam, sehr wohl tun würde. Sein anderes
     Leben, |684| das dieser zukünftige Wells gelebt hatte, würde daher nicht ausgelöscht, und es war müßig, darüber zu spekulieren, ob er sich
     seinem Schicksal beugen sollte.
    Er musste entscheiden, welches Leben er wählen wollte, und durfte sich dabei nicht von moralischen Nebensächlichkeiten beeinflussen
     lassen. Er musste einfach das Leben wählen, das ihm am lebenswertesten erschien. Wollte er weiterhin mit Jane zusammen sein,
     Romane schreiben und von der Zukunft träumen, oder wollte er das Leben jenes fernen Wells führen? Wollte er weiterhin Bertie
     sein oder zum fehlenden Glied werden, das den
Homo sapiens
mit dem
Homo temporis
verband? Er musste zugeben, dass es verführerisch war, sich einem Schicksal zu beugen, wie es in dem Brief vorgezeichnet wurde;
     ein Leben zu akzeptieren, das von so aufregenden Episoden gekennzeichnet war wie die Bombardierung von Norwich, die er – warum
     es leugnen – ganz gern erleben würde, da er ja wusste, dass er davonkam. Er könnte unbesorgt durch das Geschehen laufen, während
     die Bomben vom Himmel fielen, und die entsetzliche Schlagkraft der menschlichen Unvernunft bewundern, die Schönheit, die sich
     auch unter diesem Schauspiel der Zerstörung verbarg. Nicht zu reden von den Wundern, die er bei seinen Zeitsprüngen in die
     Zukunft erblicken würde und die nicht einmal Verne sich hätte ausdenken können. Dafür hätte er allerdings Jane opfern müssen
     und vor allem die Literatur, denn schreiben würde er dann nicht mehr. War er dazu bereit? Er dachte lange darüber nach, bis
     er zu einer Entscheidung fand. Dann ging er ins Schlafzimmer hinauf, weckte Jane mit zärtlichen Küssen und liebte sie in der
     beängstigenden Dunkelheit jener Nacht, als wäre es das letzte Mal.
    |685| «Du hast mich geliebt, als wäre es das erste Mal, Bertie», sagte Jane überrascht und verwundert, bevor sie wieder einschlief.
    Und als er ihre sanften Atemzüge neben sich hörte, begriff Wells wieder einmal, dass seine Frau sehr viel besser wusste, was
     er wollte, als er selbst, und dass er sich die ganze Zeit hätte sparen können, die er gebraucht hatte, um zu einer Entscheidung
     zu kommen, welche, wie er nun erkannte, auch noch falsch gewesen war. Ja, sagte er sich, um zu wissen, was wir wirklich wollen,
     ist es manchmal am besten, sich für das genaue Gegenteil zu entscheiden.
     
    Er ließ von seinen Gedanken ab, als die Kutsche vor Berkeley Square Nr.   50 hielt, dem verwunschensten Haus von London. Nun war der Augenblick gekommen. Er stieg aus, holte tief Luft und ging ohne
     Eile ins Haus. Als er eintrat, stellte er fest, dass Stoker und James bereits da waren und sich angeregt mit dem Mann unterhielten,
     der sie umzubringen gedachte.
    «Ah, Mr.   Wells», rief Marcus, als er ihn eintreten sah. «Ich dachte schon, Sie kämen nicht.»
    «Entschuldigen Sie die Verspätung, Gentlemen», sagte Wells mit resigniertem Blick auf die Leibwächter, die sich am Rande des
     von den Kerzen markierten Lichtrechtecks aufhielten und gelassen auf den Befehl warteten, dieses Idiotentrio ins Jenseits
     zu befördern.
    «Aber ich bitte Sie», erwiderte sein Gastgeber. «Worauf es ankommt, ist, dass Sie Ihren Roman mitgebracht haben.»
    «Ja», sagte Wells, einfallslos mit dem Manuskript wedelnd.
    |686| Marcus nickte zufrieden und deutete auf das Tischchen an seiner Seite, auf dem bereits die beiden anderen Manuskripte lagen.
     Mit nicht sehr feierlicher Geste legte Wells seines dazu und trat einige Schritte zurück. Er

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