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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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brauchten, um den Park zu durchqueren – würde er wissen, ob Jane den Ansturm der Kampfmaschinen überlebt hatte oder nicht. Emma, die ihm gegenübersaß und Claytons Kopf in ihrem Schoß wiegte wie eine erschöpfte irdische Madonna, warf ihm aufmunternde Blicke zu; doch wie ihm war auch ihr klar, dass die Chancen, dass Jane noch lebte, mehr als gering waren. Vielleicht, dachte Wells, war Jane schon seit Stunden tot, unter Trümmern begraben oder eine dieser verkohlten Gestalten in den Straßen, und er hätte noch nicht eine Träne um sie vergossen. Aber könnte so etwas passiert sein, ohne dass er es mit irgendeiner Faser seines Körpers gespürt hätte? Irgendwelche Schwingungen des Universums hätten es ihm doch mitteilen müssen! Und musste die unantastbare Liebe nicht wie ein gesponnener Kokon sein, der sie nicht nur einhüllte, sondern durch ein Vibrieren der Fäden auch alarmierte, wenn der andere das Gespinst verlassen hatte? Wells atmete tief ein und schloss die Augen, versuchte das Rattern der Kutsche zu ignorieren und sich ganz auf seine innere Melodie zu konzentrieren; nicht, dass sein Organismus seit Stunden versuchte, ihm Janes Tod mitzuteilen und er schlicht einem falschen Rhythmus gelauscht hatte. Sein Körper schien aber nichts von ihrem Tod zu wissen, und das war vielleicht der unwiderlegbarste Beweis, den er finden konnte, dass Jane noch lebte. Es erschien ihm unvorstellbar, dass die einzige Person auf der Welt, die er innig liebte, aufhören könnte zu existieren, ohne dass er etwas davon wahrnahm, oder wenigstens eine Sekunde später ebenfalls starb, einem Herzinfarkt erlag mit einer Gleichzeitigkeit, die die von Zwillingen noch überträfe. Seit Wells ihre Nachricht an der Tür der Garfields gefunden hatte, hatte er in der Furcht gelebt, Jane könne sterben oder schwer verletzt werden, hatte sich jedoch gezwungen, diese Gedanken zu verdrängen. Und diese Strategie musste er weiterverfolgen, durfte den Deich, der den ganzen Schmerz zurückhielt, nicht eher einbrechen lassen, bis sich ihr Tod wirklich bestätigte, bis seine Gefährten nach drei oder vier Stunden vergeblichen Wartens auf dem Hügel ihm mit betrübter Miene ihr Beileid bekundeten. Aber er wusste, dass sein Herz Janes Tod selbst dann noch nicht akzeptieren würde. Erst wenn er ihren leblosen, kalten, aller Seelenwärme beraubten Körper in den Armen hielt, würde er sich eingestehen, dass seine Jane gestorben war; irgendwo in dieser großen Stadt gestorben war, als er noch darauf vertraute, dass sie auf Primrose Hill erscheinen würde, mit ein paar Kratzern vielleicht und dem überschwänglichen Lächeln derer, die tausend Gefahren ausgewichen ist, um ihn in ihre Arme zu schließen.
     
    Die beunruhigende Wattedecke der Stille, die über der Euston Road lag, streckte sich bis Regent’s Park. Kein Mensch zeigte sich in der ganzen Umgebung, und im Park selbst schien alles zu sein wie immer. Bäume, Steine und Gräser waren unversehrt, und wenn hier eine Kampfmaschine durchgekommen war, musste sie dieses Stück herrlicher Natur mitten in London so gerührt haben, dass sie es verschont hatte. Nur ein Hund erinnerte die drei daran, dass sie sich mitten in einer Marsinvasion befanden, als er vor der Kutsche über die Straße trottete, im Maul etwas, das wie ein menschlicher Arm aussah. So hat wenigstens einer was davon, dachte Wells, während Emma angewidert den Blick abwandte. Von diesem makabren Farbtupfer abgesehen, verlief die weitere Fahrt ohne Zwischenfälle, bis sie schließlich die Hügelkuppe von Primrose Hill erblickten.
    Sie ließen die Kutsche unten stehen und schleppten Clayton die kurze Anhöhe hinauf, da sie nicht wagten, ihn allein zu lassen. Oben setzten sie ihn mit dem Rücken an einen Baumstamm. Nun konnten sie endlich einen Eindruck vom gesamten Ausmaß der Zerstörung gewinnen.
    Zu ihren Füßen lag London in den letzten Zügen. Im Norden waren die Häuser von Kilburn und Hampstead nur noch rauchende Trümmer, zwischen denen drei oder vier Kampfmaschinen umherstaksten. Im Süden, hinter dem wallenden Grün des Regent’s Parks, stand Soho in Flammen, und durch seine Straßen bewegten sich mit der Eleganz von Störchen ebenfalls einige Kampfmaschinen, die ab und zu ihre Hitzestrahlen abschossen. Weiter hinten erkannten sie die wuchtigen Villen der Brompton Road, die fast alle zerstört waren, und die Abtei von Westminster, nur noch eine Ruine. Hinter einem Rauchvorhang konnte man die Kathedrale von St. Paul erahnen,

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