Die Landkarte des Himmels
größer waren seine Chancen, ins Frauenlager gebracht zu werden, und damit auch die, Claire zu begegnen, von der er nichts mehr gehört hatte, seit er sich von Charles hatte anstiften lassen, den Keller in Queen’s Gate zu verlassen, um seinem Schicksal ins Auge zu sehen, was sich später als Irrtum herausgestellt hatte.
Sie brachten ihr Frühstück wortlos hinter sich. Charles brauchte den Hauptmann nichts zu fragen, um zu wissen, dass er Claire auch heute nicht begegnet war. Und wieder empfand er Schuldgefühle, weil er ihn überredet hatte, Claire im Keller der Villa seines Onkels zurückzulassen. In den letzten zwei Jahren hatte Charles ausreichend Zeit gehabt, viele Dinge zu bereuen, die er in seinem Leben getan hatte, doch nichts bereute er so sehr, wie Derek von seiner Frau getrennt zu haben. Während der ersten Monate ihrer Gefangenschaft hatte der Hauptmann derart maßlose Hoffnungen auf einen Aufstand gehegt, dass sie Charles unwillkürlich an die zahllosen Hinderungsgründe erinnerten, die er angeführt hatte, als er ihn beinahe mit Waffengewalt hatte zwingen müssen, sein Schicksal als Weltenretter anzunehmen. Aber klar, damals hatte Shackleton noch geglaubt, seine Frau befände sich in Queen’s Gate in Sicherheit, und nichts anderes im Sinn gehabt, als zu ihr zurückzukehren. Er hatte sich unmöglich vorstellen können, wie die Invasion enden würde, und schon gar nicht, von seiner Frau getrennt zu sein, für die er immerhin durch die Zeit gereist war.
Doch so war es durch Charles’ unglückliche Einmischung gekommen, und während der ersten Monate im Gefangenenlager dachte Shackleton an nichts anderes als an Flucht, um Claire suchen zu können, und er entwarf einen Plan nach dem anderen, was auch Charles’ Hoffnung hätte wiederbeleben können, wenn diese Fluchtpläne nicht völlig absurd und verzweifelt gewesen wären: Er wollte Stofffetzen zusammennähen und sich oben von der Pyramide stürzen, um mit einer Art von Schwingen auf den höheren Luftströmungen davonzufliegen; er wollte sich in den Trichter stürzen, um durch das Mittelloch zu verschwinden; im Frauenlager wollte er einen Aufstand anzetteln … Diese irrsinnigen Fluchtpläne, die der Hauptmann einer willkürlich zusammengestellten Gruppe sogenannter Auserwählter konfus und unzusammenhängend vortrug, zeigten nur, wie sehr er seine Claire vermisste. Sein ganzes Denken, seine ganze Kraft waren darauf gerichtet, sie zu finden. Und wenn Charles einwandte, Claire könne überall und weit fort sein – nie hatte er jedoch den Mut, anzudeuten, dass sie vielleicht nicht mehr am Leben war – oder nicht mehr in England, antwortete Shackleton stets, dass sein erster Weg zu ihr sehr viel weiter gewesen sei.
Nach und nach jedoch ließ er von seinen wirren Plänen ab. Von den Erwartungen, fliehen zu können oder mit den geschlagenen Männern, die er im Lager fand, eine Widerstandsgruppe zu bilden, die die Wachen überwinden und danach ein Lager nach dem anderen überfallen sollte, oder all die zerstörten Städte abzugrasen, in denen sich noch Überlebende versteckt hielten, oder, wenn nötig, den ganzen Planeten abzusuchen, bis er seine Frau gefunden hätte – von diesen Erwartungen blieben am Ende nur noch mürrische Monologe und einsilbige Bemerkungen, bis er schließlich kein Wort mehr darüber verlor. Er sprach nie wieder von Flucht.
Jetzt bestand Shackletons einzige Hoffnung in den Ladungen neuer Frauen, die in Abständen ins Lager kamen und unter denen er eines Tages doch noch Claire zu begegnen hoffte. Aber warum?, fragte sich Charles. Was hatte er davon, sie in ihrer jetzigen Lage wiederzufinden; in dieser finsteren, hoffnungslosen Zeit, in der ihnen allein die schmerzliche Gewissheit blieb, zwar noch zu leben, aber nur um zu leiden?
Eines Tages hatte die unzerstörbare, absurde Hoffnung des Hauptmanns Charles’ alten Zynismus angestachelt und ihn die grausame Frage stellen lassen: «Was würdest du Claire denn sagen, wenn du sie schließlich doch noch finden würdest, Derek?» Der Hauptmann hatte ihn überrascht angeschaut und dann lange geschwiegen, bis er in den trostlosen Tiefen seiner Seele eine Antwort fand: «Ich würde sie um Verzeihung bitten. Ich würde zu ihr sagen: ‹Verzeih mir, Claire, dass ich dich belogen habe …›»
Als Charles das hörte, hatte er versucht, den Hauptmann wieder aufzumuntern, und ihm gesagt, dass Claire ihm niemals vorwerfen könne, die Invasion nicht aufgehalten zu haben. Sie würde im
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