Die Lange Erde: Roman (German Edition)
weg.
»Ich habe mir schon überlegt, ob er vielleicht krank ist«, sagte er unsicher. »Nachdem er unter den Trolljungen begraben wurde, war er nicht mehr so wie vorher.«
Die Stimme Lobsangs kam jetzt über den Lautsprecher: »Macht euch doch keine unnötigen Sorgen.«
Sally erschrak und lachte nervös. »Sollen wir uns lieber nötige Sorgen machen?«
»Sally, bitte, hab doch ein wenig Geduld mit uns. Es hat keine Fehlfunktion gegeben. Mit dir spricht gerade ein Untersystem für den Notfall. Lobsang gestaltet sich gerade um, das heißt, er sortiert gewaltige Mengen an neuer Information ein. Das kann mehrere Stunden dauern. Die Untersysteme sind jedoch ohne Weiteres in der Lage, sämtliche Funktionen und Prozesse während des vorgegebenen Zeitraums auszuführen. Lobsang braucht ein wenig Zeit offline. Früher oder später braucht jedes einigermaßen mit Vernunft begabte Wesen Zeit, um Inventur zu machen, das versteht ihr doch bestimmt. Ihr befindet euch absolut in Sicherheit. Lobsang freut sich darauf, ungefähr bei Tagesanbruch wieder zu euch zu stoßen.«
»Jetzt hätte er nur noch ›Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag‹ sagen müssen«, schnaubte Sally aufgebracht, »aber vermutlich kann man nicht alles haben. Was meinst du, wie viel von dem der Wahrheit entspricht?«
Joshua zuckte die Achseln. »Ich glaube, er hat sehr schnell sehr viel von den Trollen gelernt.«
»Und jetzt absorbiert er ihre Albträume. Somit haben wir einen Abend frei. Sollen wir noch mal an die Bar gehen?«
»Welche Bar?«
Am Ende etlicher Abschiedsrunden an der Bar, die alle aufs Haus gingen, musste er sie zum Schiff zurücktragen, wo er sie in ihrer Kabine vorsichtig aufs Bett legte. Wenn sie schlief, sah sie jünger aus. Er verspürte den unerklärlichen Drang, sie zu beschützen, und war froh, dass sie nicht wach war und alles mitbekam.
Von Lobsang war nichts zu sehen und nicht zu hören.
Wie es sich herausstellte, hatten die Trolle das Schiff von sich aus verlassen. Joshua dachte: Troll sieht Fahrstuhlknopf, Troll denkt über Fahrstuhlkopf nach, Troll drückt Fahrstuhlknopf. Tschüss, Troll … Lobsang hatte aus seinem Kontakt mit den Trollen bestimmt noch mehr herausziehen wollen, aber offensichtlich hatten die Trolle alles, was sie von ihm wollten, bereits bekommen.
Jetzt lag Joshua allein auf seiner Couch auf dem Aussichtsdeck und schaute in die Sterne.
Bei Tagesanbruch stieg das Schiff, während sämtliche Passagiere friedlich schlummerten, sanft auf und gewann an Höhe, bis es ein gutes Stück über den höchsten Waldriesen schwebte. Dann wechselte es und verschwand mit einem leisen Donnerschlag.
40
A m Morgen war Lobsang wieder da. Joshua spürte ihn, er spürte, dass eine neue Zielstrebigkeit in das Schiff zurückgekehrt war, noch ehe die mobile Einheit sich zu ihm aufs Aussichtsdeck gesellte, wo er den ersten Kaffee des Tages zu sich nahm. Sally schlief offensichtlich noch.
Sie schritten langsam voran, die Welten fluteten unter ihnen dahin. Wie fast immer bestand die Lange Erde hauptsächlich aus Bäumen und Wasser, Stille und Monotonie. Joshua war froh, dass er die schwer zu beschreibende Eigenartigkeit von Happy Landings hinter sich gelassen hatte, aber während sie weiter gen Westen vordrangen, kehrte auch der zunehmende Druck in seinem Kopf zurück, den er vergeblich zu ignorieren versuchte.
Die beiden saßen sich schweigend gegenüber. Keiner erwähnte Lobsangs Freunde, die Trolle, die sich verabschiedet hatten, und auch nicht Lobsangs Auszeit. Joshua konnte Lobsangs Stimmung nicht einschätzen. Er fragte sich flüchtig, ob er sich jetzt ohne die Trolle einsam fühlte oder ob er enttäuscht war, dass sie das Schiff lieber wieder verlassen hatten, oder frustriert, weil seine Untersuchungen offensichtlich nicht zu Ende geführt werden konnten. Es verunsicherte Joshua ein wenig, dass Lobsang immer instabiler zu werden schien, immer unvorhersehbarer. Vielleicht überlasteten ihn die vielen neuen Erfahrungen.
Nach ungefähr einer Stunde sagte Lobsang aus heiterem Himmel: »Denkst du gelegentlich über die Zukunft nach, Joshua? Über die ferne Zukunft, meine ich?«
»Nein. Aber du bestimmt.«
»Die Ausbreitung der Menschheit über die Lange Erde ruft garantiert mehr als nur politische Probleme hervor. Ich sehe eine Zeit voraus, in der die Menschheit so weit über die endlose Vielzahl der Welten verstreut sein wird, dass sich an jedem Ende ihrer Hegemonie bedeutende genetische Unterschiede herausbilden.
Weitere Kostenlose Bücher