Die Lange Erde: Roman (German Edition)
sie immer trug, eher als Keuschheitsgürtel gedacht war. Sie war vertrauenswürdig und zuverlässig, und der einzige winzige Makel, den ihre Vorgesetzten je an ihr festgestellt hatten, war, dass sie jedes Musikstück besaß, das Bob Dylan jemals aufgenommen hatte.
Sie wusste, dass keiner ihrer Arbeitgeber sie auch nur ansatzweise kannte. Nicht einmal die Herren, die, wenn sie wussten, dass sie bei der Arbeit war, gelegentlich in ihre Wohnung einbrachen und alles sehr sorgfältig durchsuchten. Zweifellos grinsten sie einander an, wenn sie das kleine Holzstückchen, das Hermione jeden Tag zwischen Haustür und Rahmen steckte, vorsichtig wieder an Ort und Stelle schoben. So ähnlich, wie sie selbst grinste, wenn sie merkte, dass die großen Plattfüße ihrer Besucher den Meringuebrösel zertreten hatten, den sie immer gleich hinter der Tür zum Wohnzimmer auf den Teppich legte; ein Brösel, der ihnen noch nie aufgefallen war.
Da sie den Goldring nie abnahm, wusste niemand außer ihr und Gott, dass auf seiner Innenseite recht aufwendig eine Zeile aus einem Lied von Bob Dylan namens »It’s Alright Ma (I’m Only Bleeding)« eingraviert war. Sie fragte sich, ob von den Wichtigtuern, mit denen sie derzeit arbeitete, inklusive der Minister, überhaupt jemand erkannt hätte, woher das Zitat stammte.
Heute, mehrere Jahre nach dem Wechseltag, war im Regierungsbüro die neueste panische Diskussion im Gange, und sie fragte sich gerade, ob sie wohl schon zu alt war, noch einen Job bei den »Masters« zu bekommen – statt hier bei diesen »Fools«.
»Dann sollten sie lizenziert werden. Diese Wechsel-Boxen. Wirtschaftlich gesehen ist die Lange Erde ein Fass ohne Boden, in dem alles verschwindet! Die Benutzung der Kästchen zu bestrafen würde wenigstens ein paar Steuereinnahmen bringen!«
»Das ist doch absurd, mein Bester.« Der Premierminister lehnte sich zurück. »Machen Sie sich doch nicht lächerlich. Wir können etwas nicht einfach verbieten, bloß weil wir es nicht kontrollieren können.«
Der Minister, der für Gesundheit und Sicherheit verantwortlich war, machte ein erschrockenes Gesicht. »Wieso denn nicht? Das haben wir doch immer so gemacht.«
Der Premierminister klopfte mit dem Kugelschreiber auf den Tisch. »Die Innenstädte leeren sich. Die Wirtschaft fällt in sich zusammen. Natürlich gibt es auch eine positive Seite. Das Problem der Einwanderung hat sich erledigt …« Er lachte, schien aber dann in sich zusammenzufallen, und als er wieder das Wort ergriff, hörte er sich in Hermiones Ohren beinahe verzweifelt an: »Gott steh uns bei, meine Herren, die Wissenschaftler haben mir mitgeteilt, dass es mehr Kopien des Planeten Erde geben könnte als Menschen! Welche politischen Maßnahmen können wir angesichts dessen überhaupt noch ergreifen?«
Irgendwann ist Schluss. Dieser Gedanke befiel Hermione ganz plötzlich.
Während die heikle, überhebliche und sinnlose Unterhaltung weitergeführt wurde, schrieb Hermione lächelnd ein paar Zeilen in ihrer makellosen Pitman-Kurzschrift, legte den Block auf den Schreibtisch vor sich, und nachdem der Premierminister zustimmend genickt hatte, stand sie auf und verließ den Raum. Wahrscheinlich merkte sonst niemand, dass sie weg war. Sie ging hinaus auf die Downing Street und wechselte in das London nebenan, wo es vor Sicherheitsmannschaften nur so wimmelte, aber nach all den Jahren war sie hier wohlbekannt, weshalb ihr Ausweis anstandslos akzeptiert und sie selbst durchgelassen wurde. Dann wechselte sie wieder. Und wieder, und wieder …
Als ihr Fehlen sehr viel später doch auffiel, wurde eine der anderen Sekretärinnen hereingerufen, um die verschnörkelte kleine Nachricht, die sie aufgeschrieben hatte, zu übersetzen.
»Ich finde, es sieht aus wie ein Gedicht, Sir. Oder der Text von einem Lied. Irgendwas über Leute, die das kritisieren, was sie nicht verstehen können.« Sie hob den Blick und sah den Premierminister an. »Sagt Ihnen das etwas? Sir? Alles in Ordnung mit Ihnen, Sir?«
»Haben Sie einen Ehemann, Mrs … Entschuldigung, aber ich weiß nicht, wie Sie heißen?«
»Ich heiße Caroline, Sir. Ich habe einen Freund, einen festen Freund, er ist handwerklich sehr begabt, Sir. Soll ich Ihnen vielleicht einen Arzt rufen?«
»Nein, schon gut. Es ist nur … Wir sind alle so verdammt unzulänglich, Caroline. Was für eine Farce dieses Regierungsgeschäft doch ist! Sich vorzustellen, dass wir jemals die Kontrolle über unser Schicksal erlangen könnten. An
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