Die Lange Erde: Roman (German Edition)
von einer Erde zu nehmen«, sagte Lobsang. »Es ermöglicht mir, meine Stichproben von bestimmten Welten über meinen persönlichen Horizont hinaus zu erweitern. Ich sammle jetzt ein paar Daten, aber die Daten aus den laufenden Beobachtungen werden von den Sonden heruntergeladen, wenn wir auf dem Rückweg wieder in dieser Welt vorbeikommen, oder wenn in der Zukunft ein anderes Schiff hier vorbeikommt.«
Unter den Geschöpfen dort unten am Fluss gab es eine Nashornart, riesige Tiere mit erstaunlich dünnen Beinen. Sie drängten sich am Rand des Wasser und stießen einander zur Seite, um zu trinken.
»Überall auf dem Aussichtsdeck gibt es Ferngläser und Kameras«, sagte Lobsang. »Die Tiere da unten sehen ein wenig wie Elasmotherium aus, würde ich sagen. Oder ein sehr entwickelter Abkömmling.«
»Das sagt mir überhaupt nichts.«
»Natürlich nicht. Willst du eine eigene Spezies haben? Gib ihnen einen Namen, wenn du möchtest. Ich nehme alles auf, was wir sehen, hören, sagen und tun, und wenn wir zurück sind, werde ich meine Ansprüche offiziell anmelden.«
Joshua lehnte sich zurück. »Wir verschwenden unsere Zeit.«
»Zeit? Wir haben alle Zeit der Welten. Aber egal …«
Das Wechseln setzte wieder ein, die Nashornherde verschwand. Joshua empfand das Fortkommen inzwischen als sanftes Ruckeln, wie bei einem Auto mit guter Stoßdämpfung, das über eine holprige Straße fährt.
Seiner Schätzung nach passierten sie alle paar Sekunden eine Welt, über 40 000 neue Welten pro Tag, wenn sie dieses Tempo rund um die Uhr beibehielten (was nicht der Fall war). Joshua war beeindruckt, aber das wollte er nicht sagen. Unter dem Schiffsbug huschten Landschaften vorbei, von denen er nur die gröbsten Umrisse erkennen konnte, ganze Welten zogen im Takt seines eigenen Herzschlags vorüber. Kaum hatte er Tierherden oder einzelne Kreaturen erblickt, waren sie auch schon wieder weg, fortgezaubert in die Unwirklichkeit der Wechselwelten und ihrer Andersartigkeit. Sogar die Baumgruppen veränderten ihre Form und Größe von einer Welt zur anderen, Veränderung folgte auf Veränderung folgte auf Veränderung. Gelegentlich flimmerte es – dann stürzten sie kurz in Dunkelheit, hin und wieder war flackerndes Licht auszumachen, eigenartige Farbschlieren, die sich durch die Landschaft zogen. Bestimmte außergewöhnliche Welten wurden seiner Wahrnehmung entzogen, ehe er sie richtig registrieren konnte. Sonst gab es nur die anhaltende Kette von Welten, eine Erde nach der anderen, durch die Bewegung des Schiffes zur Gleichförmigkeit geglättet.
»Fragst du dich je, wo du überhaupt bist, Joshua?«
»Ich weiß, wo ich bin. Ich bin hier.«
»Ja, schon. Aber wo ist hier? Alle paar Sekunden trittst du in eine andere Wechselwelt ein. Wo aber befindet sich diese Welt in Relation zur Datum-Erde? Und die nächste und die übernächste? Wie ist es möglich, dass sie alle Platz haben?«
Tatsächlich hatte sich Joshua darüber schon ein paar Gedanken gemacht. Als Wechsler stellte man sich unwillkürlich solche Fragen. »Ich weiß, dass Willis Linsay eine Nachricht hinterlassen hat: ›Die nächste Welt ist immer nur den Hauch eines Gedankens entfernt!‹«
»Leider hat er sonst keine nachvollziehbaren Aufzeichnungen hinterlassen. Abgesehen davon tappen wir völlig im Dunkeln. Wo also befindet sich diese Welt, diese spezielle Erde? Genau an der gleichen Stelle und in der gleichen Zeit wie die Datum-Erde. Es ist wie ein anderer Vibrationsmodus einer Gitarrensaite. Der einzige Unterschied besteht darin, dass wir sie jetzt besuchen können; zuvor haben wir sie nicht einmal bemerkt. Eine viel bessere Antwort haben die zahnlosen Physiker von transEarth bis jetzt auch noch nicht geliefert.«
»Findet man den ganzen Wissenschaftskram in Linsays Aufzeichnungen?«
»Das wissen wir nicht. Er scheint seine eigene Mathematik erfunden zu haben. Wir haben die Universität Warwick darauf angesetzt. Er hat obendrein alle seine schriftlichen Notizen in einen fantastisch obskuren Code verdichtet. IBM wollte nicht mal einen Preis nennen, den es kosten würde, das alles zu entwirren. Außerdem hat er eine fürchterliche Klaue.«
Lobsang redete immer weiter, aber Joshua gelang es, ihn auszublenden. Eine Fähigkeit, die er, wie er vermutete, noch perfektionieren musste.
Musik ertönte auf dem Deck, die kalten Töne eines Cembalos.
»Würde es dir etwas ausmachen, das wieder auszumachen?«
»Das ist Bach«, erwiderte Lobsang. »Eine Fuge. Ich weiß, eine
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