Die Lanze des Herrn
sind. Ich habe Sie zum wichtigsten Experiment der Geschichte hier versammelt.«
Nach einer Pause fuhr die Stimme fort:
»Nicht nur der Menschheitsgeschichte, sondern der Schöpfungsgeschichte. Wir erleben nicht nur vielleicht die Geburt des ersten Kindes, das mehr ist als ein gewöhnlicher Mensch, sondern wir erleben auch die Entstehung eines neuen Geschlechts. Wir sind Zeugen der Verwandlung des Menschengeschlechts. Wir werden die Herren unseres Schicksals werden, meine Damen und Herren. Mit oder ohne Gott.«
Für einen kurzen Augenblick lachte die Stimme, dann sprach sie weiter:
»Wenn es Gott nicht gibt, hat unser Projekt keinerlei Bedeutung. Inwiefern müsste man es dann verurteilen? Wenn es Gott gibt, weiß er, was wir vorhaben, nicht wahr? Also werden wir ihm unsere Frage stellen. So viel Leiden in diesem Leben, so viele Fragen, die ihm die Menschen stellen, ohne dass sie jemals eine Antwort bekommen. Heute werden wir mit ihm sprechen, am Fuße des Berges Sinai wie einstmals Mose vor dem brennenden Dornbusch. Aber im Unterschied zu dem Propheten werden wir es wagen, ihm direkt in die Augen zu blicken. Wenn ich mich so ausdrücken darf, ins Gesicht, ihm, dessen Namen die Juden noch nicht einmal zu nennen wagten! Und wir werden ihm die Frage stellen: Legst du endlich das Schicksal deiner Schöpfung in die Hände deines Geschöpfs?«
Mystisch hallte die Stimme in dem hohen Gewölbe wider.
Dann wurde sie wieder leiser, und Professor Li-Wonk, der mit gefalteten Händen neben dem weißen Kasten gestanden hatte, kniff die Augen zusammen.
»Seine Wege sind unerforschlich. Aber wir werden sehen, ob er uns bei unserem Vorhaben hilft oder nicht. Meine Damen und Herren, ich lade Sie ein, demnächst Gott kennenzulernen. Die Schicksalslanze ist unsere Einladung. Und nicht nur, um ihn allein zu sehen und mit ihm allein zu sprechen, sondern auch mit seinem Sohn und dem Heiligen Geist. Und natürlich, nicht zu vergessen, mit ihr.«
Die Stimme kam zum Ende: »Ich spreche von der neuen Maria.«
♦♦♦
Judith saß noch immer mit zusammengepressten Lippen auf ihrem Platz im letzten Wagen des Zuges. Sie musterte ihren Gegner und schlug die Beine übereinander, bemüht, ihre Nervosität zu verbergen. Langsam nahm der Mann ihr die Hand vom Mund. Sie überlegte, ob sie um Hilfe rufen sollte, doch dann besann sie sich eines Besseren und fragte:
»Was wollen Sie von uns?«
»Um Ihren Freund kümmert sich gerade mein Kollege. Mit Ihnen haben wir etwas anderes vor. Wir brauchen jemand, der sozusagen das Ohr des Vatikans hat.«
Er sprach mit deutschem, vielleicht österreichischem Akzent.
»Und wenn ich jetzt schreien würde, hier auf der Stelle?«, fragte Judith. »Ihr Messerchen beeindruckt mich nicht. Wollen Sie mich vielleicht hier im Wagen aufschlitzen? Wir sind doch nicht allein.«
Der Mann grinste. Judith wurde angst und bange. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Oberlippe. Sie sah sich selbst in dem Zug sitzen, sah sich, wie sie darum kämpfte, Ruhe zu bewahren. Was hier geschah, war Wirklichkeit, kein böser Traum. Sie musste um jeden Preis ruhig bleiben.
»Sie können es ja probieren«, sagte der Mann völlig unbeeindruckt. »Ich habe andere Möglichkeiten, Sie zum Schweigen zu bringen, bevor Sie auch nur mit der Wimper gezuckt haben. Ich bin nämlich Profi«, sagte er mit einem salbungsvollen Lächeln.
Judith schluckte mühsam. Dann sagte sie mit so fester Stimme wie irgend möglich:
»Sie wissen doch, dass Ihr Vorhaben purer Wahnsinn ist. Was wollen Sie? Wollen Sie uns glauben machen, dass Sie es durchziehen, um Geld zu verlangen wie primitive Erpresser? Und glauben Sie wirklich, dass wir das mit uns machen lassen? Meinen Sie tatsächlich, dass Sie Erfolg haben?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden, meine Liebe. Ich folge nur meinen Anweisungen.«
»Wer steckt hinter Axus Mundi? Wer leitet es?«
»Können Sie nicht mal den Mund halten?«
Noch immer grinsend, sah er sie von der Seite an. Sein Blick verharrte eine Weile auf ihrer Brust. Je länger die Minuten verstrichen, desto stärker hatte sie das Gefühl, in der Falle zu sitzen.
In ihrem tiefsten Innern wollte sich ein nicht zu unterdrückender Schrei erheben. Anselmo kam nicht wieder. Was konnte ihm zugestoßen sein? War er etwa –?
Nein, bitte nicht! Nein, sie würde es nicht mehr lange aushalten.
Ein neuer Angstanfall trieb ihr den Schweiß aus allen Poren.
Der Wind schlug Anselmo ins Gesicht wie eine Ohrfeige. Um ihn herum herrschte
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