Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Laufmasche

Titel: Die Laufmasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Gier
Vom Netzwerk:
...

    Diesen überkam in der vorletzten Urlaubsnacht tiefer Weltschmerz, als hätte er begriffen, was es bedeutet, Heinz-Peters Kind zu sein. Klein-Lena, so heißt der Säugling, schrie von Mitternacht bis drei Uhr morgens wie eine Kreissäge. An Schlaf war im Umkreis von einem Kilometer nicht mehr zu denken.
    »Ich kann sowieso nicht schlafen«, meinte Till schlecht gelaunt. »Das macht mich ganz fertig, jede Nacht so nah neben dir zu liegen und dich nicht berühren zu dürfen.«
    »Du darfst mich berühren«, widersprach ich. »Ich mag es, wenn du meinen Rücken kraulst.«
    »Du weißt genau, was ich meine.«
    »Ich finde es gemütlich.«
    Klein-Lena nebenan schrie.
    »Früher hattest du nichts gegen Sex. Im Gegenteil«, sagte Till anklagend.
    »Ich dachte, wir hätten das geklärt. Unter diesen Be-dingungen habe ich einfach keine Lust auf Sex.«
    Klein-Lena schrie. Till seufzte wieder und holte sein Schachspiel unter dem Bett hervor. Ich bekam seine Dame und einen Turm geschenkt.
    »Aber warum unterdrückst du deinen Sexualtrieb?«, fragte er. »Es ist nicht gesund, Lustgefühle zu ignorieren.«
    »Ich verspüre keinerlei Lustgefühle, wenn ich neben dir liege«, sagte ich. Das war die Wahrheit. Dummerweise.
    »Um so schlimmer.« Till schüttelte beleidigt den Kopf.
    Wir spielten eine Weile schweigend. Nachdem ich zweimal verloren hatte, schenkte Till mir noch seine beiden Läufer. Klein-Lena schrie.

    »Warum, meinst du, wollen Leute Kinder haben?«, fragte ich abgelenkt.
    Till wusste es nicht. »Schach. Wolltest du nicht eigentlich auch mal welche haben?«
    Nebenan stimmte Heinz-Peter ein Schlaflied an.
    »Schlaf mein Kindchen, schlaf ein Stündchen«, sang er mit klarer Stimme.
    »Nur, wenn ich einen Mann wie Heinz-Peter finde«, sagte ich.
    »Da kannst du lange suchen.«
    Klein-Lena mochte nicht, wie Heinz-Peter sang. Sie schrie lauter. Es klang jetzt wie eine defekte Kreissäge. Heinz-Peters Gesang brach unvermittelt ab. Wir hörten, wie Eszieht Klein-Lena in den Kinderwagen packte und
    Heinz-Peter das Ding die Treppe hinunterwuchtete.
    Klein-Lena brüllte dabei wie am Spieß. Heinz-Peter fuhr mit ihr die Dorfstraße auf und ab. Sollten die anderen Urlauber ruhig auch merken, dass Klein-Lena Zähnchen bekam!
    »Ich könnte hinterherschleichen und alle beide meu- chelmorden«, sagte Till sehnsüchtig.
    Unten auf der Straße sang Heinz-Peter arglos ein Kinderlied. »Aa, Bä, Cä, die Katzä läuft im Schnääh«, sang er. Er war sicher auch mal im Kirchenchor gewesen. Im Sopran.
    Klein-Lena brüllte.
    »Schachmatt«, sagte Till.
    Am Morgen erschienen wir übernächtigt und mit vorwurfsvollen Blicken am Frühstückstisch. Über Nacht war ein halber Meter Neuschnee gefallen, und nur wegen Klein-Lenas Gebrüll waren wir jetzt nicht fit für den Tiefschnee.

    Die anderen sahen auch nicht gerade gut gelaunt aus. Eszieht zwängte Klein-Lenas Brüderchen gewaltsam in eine wasserdichte Latzhose, Ollie hatte dunkle Ringe unter den Augen, und Jörg war nirgendwo zu sehen. Frauke saß in einer Ecke und rührte mürrisch in ihrer verdauungsfördernden Haferkleie herum. Mir fiel jetzt erst auf, dass sie seit Tagen kein Wort mehr mit Jörg gesprochen hatte.
    Nur Heinz-Peter sah trotz seines nächtlichen Ausflugs so frisch und adrett aus wie immer. Er hatte uns bereits ein Müsli gerichtet.
    »Habts ihr die Lena heut Nacht auch gehört?«, fragte er.
    Wir hielten es für müßig, darauf zu antworten.
    »Sie bekommt Zähnchen«, erklärte uns Heinz-Peter und sprach plötzlich eine ganze Oktave höher.
    »Dleine
    Zähnchen betommt die dleine Lena, nicht wahr, die dleine Lena betommt dleine Zähnchen.«
    »Kann sie die nicht tagsüber bekommen?« Ollie knirschte vernehmlich mit seinen dleinen Zähnchen.
    »Wenn ihr wie wir früh ins Bett gegangen wärt«, sagte Heinz-Peter, und sein Gesicht strahlte förmlich vor Logik, »dann wärt ihr um Mitternacht auch schon wieder ausgeschlafen gewesen.«
    Heinz-Peter wusste es nicht, aber niemals war er näher daran, in Müsli ertränkt zu werden, als jetzt.
    »Die Lena ist müde«, meinte er heiter. »Ihr Stuhlgang ist heute Morgen ganz orange und faserig gewesen. Das kommt von den Möhrchen gestern Abend. Und gerochen hat es wie Zimt. Wie Zimt und ein bisschen wie Pflaumenmus, so süßlich.«
    Till schob seinen Teller so heftig von sich, dass das Müsli auf beiden Seiten überschwappte. Heinz-Peter legte mir Klein-Lena ungefragt in die Arme, um Tills Geschlabbertes mit einem feuchten

Weitere Kostenlose Bücher