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Die Laufmasche

Titel: Die Laufmasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Gier
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Mike in Ruhe!« Ich knallte den Hörer auf und plumpste zurück in die Kissen.
    Rothenberger kam vom Fußende des Bettes heraufgetapst, legte sich schwergewichtig und laut brummend auf meine Brust und schaute mir unverwandt ins Angesicht.
    Das Zimmer war nur spärlich erhellt. Draußen am Fenster lief der Regen hinab. Es goss immer noch wie aus Eimern.
    »Ich hab' so ein alleines Gefühl«, flüsterte ich Rothenberger zu.
    Rothenberger schnurrte nur. Katzenschnurren ist ei
    nes der tröstlichsten Geräusche, die ich kenne.
    Dass es mich an diesem Morgen kein bisschen tröstete, sprach für die Gewichtigkeit meiner Probleme.
    »Man hat mich verflucht«, klagte ich so laut, dass der Kater vom Bett sprang und nach seinem Frühstück verlangte. Ich suchte noch einmal nach dem ominösen Kettenbrief, diesmal an den unmöglichsten Orten, aber er war unauffindbar.
    Sicher war er längst im Altpapier gelandet.
    Mittags fuhr ich zu meinen Eltern, um etwas gegen mein alleines Gefühl zu unternehmen. Ein Besuch bei den Eltern ist immer eine todsichere Gelegenheit, dem Traummann aus dem Weg zu gehen. Aber davon mal abgesehen, hat es auch Vorteile. Einer davon war eine warme Mahlzeit mit Kartoffeln, von denen die Schale und diese kleinen dunklen Stellen entfernt worden waren, die wie Astlöcher aussehen. Meine Eltern lebten in einem netten weißen Haus neben dem netten weißen Haus von Ninas Eltern. In der Straße standen lauter nette weiße Häuser. Nina und ich hatten hier Rollschuh laufen und Rad fahren gelernt, Hüpfekästchen und Gummitwist gespielt und Natalie Hoppe in die Brennnesseln geschubst. Das waren schöne, sorglose Zeiten gewesen.
    Schon im Flur roch es verheißungsvoll nach Sonntagsbraten, der Spezialität meines Vaters, mir zuliebe schon am Samstag.
    »Das Essen ist gleich fertig«, kündigte mein Vater an. »Du kannst Oma schon mal Bescheid sagen!«
    Meine Oma lebte in der kleinen Wohnung im Souterrain. Sie war vierundneunzig, verlegte mehrmals täglich ihren Hausschlüssel und vergaß ab und zu, den Herd auszuschalten. Ansonsten war sie noch ziemlich gut dabei.
    »Hallo, Oma!«, brüllte ich an der Türe. Seit einigen Jahren hörte Oma nicht mehr so gut. Dafür absolvierte sie täglich ein Gymnastikprogramm, das ihr so leicht keiner nachmachte. Die ganze Wohnung roch nach Zimt und frisch Gebackenem.
    »Ich bin in der Küche!« Oma hatte Teig ausgerollt und stach mit kleinen Förmchen Plätzchen aus.
    »Hallo, Liebes«, sagte sie, »ich hab' Mehl an den Händen, sonst würde ich dich in den Arm nehmen.«
    Ich küsste sie auf die runzlige Wange. »Sind das etwa schon Zimtsterne?«
    »Ja«, antwortete Oma. »Mir war so danach, und in meinem Alter weiß man nie, ob man das nächste Weihnachten noch erlebt.«
    Ich nahm mir einen fertigen Zimtstern. Er schmeckte gut. Backen konnte sie, das musste man ihr lassen. »Lecker!«
    »Ich pack' dir welche zum Mitnehmen ein«, sagte Oma. »Weißt du schon das Neueste? Dieses Weib macht jetzt vor nichts mehr halt.«
    Ich wusste, was jetzt kam. »Dieses Weib« war unsere langjährige Putzfrau. Wenn Oma einen Gegenstand verschusselt hatte, behauptete sie kurzerhand, die Dietrich habe ihn gestohlen. Und wenn er wieder auftauchte, hatte die Dietrich ihn eben wieder dorthin gelegt. Das machte »dieses Weib« aus reiner Schikane. Obwohl es der armen Frau Dietrich gegenüber ziemlich ungerecht war, hatten wir es längst aufgegeben, Oma von ihrer eigenen Senilität zu überzeugen.
    »Was hat sie denn diesmal gestohlen?«, fragte ich neugierig. Die Dietrich konnte alles gebrauchen, Dosenöffner, Unterwäsche, Schlüssel aller Art, sogar Schrankbretter.
    »Meine Zähne!«, schnaubte Oma. »Steil dir das mal vorsieh lachte. »Ist ja nicht möglich!
    Wahrscheinlich haben ihr deine Beißer so gut gefallen, dass sie nicht widerstehen konnte.«
    »Aus dem Glas auf meinem Nachtschränkchen.
    Ich sag' dir, die wird immer dreister.« Oma öffnete den Mund und klopfte gegen ihren Schneidezahn.

    »Wahrscheinlich hat sie sich darauf gefreut, wie ich ohne Zähne sprechen würde. Aber da hab' ich ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ich hab'
    einfach mein altes Gebiss angezogen und sie damit gestern den ganzen Tag angegrinst. Du hättest mal sehen sollen, wie enttäuscht dieses Weib war.«
    »Das kann ich mir vorstellen«, sagte ich. »Komm jetzt essen, Oma. Papa hat gekocht.«
    Das Essen war vorzüglich wie immer. Um mir einen Großteil der Butterbohnen zu sichern, versuchte ich meinen

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