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Die Laufmasche

Titel: Die Laufmasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Gier
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dürfen, als das neue
    Warenwirtschaftsprogramm eingeführt worden war.
    Alle anderen, erklärte sie mir nicht ohne Stolz in der Stimme, wüssten nur die nötigsten Grundlagen, um ihre Arbeit erledigen zu können. Auf diese Weise bliebe gewährleistet, dass niemand außer den Eingeweihten Änderungen in den Dateien vornehmen könne.
    Das leuchtete mir ein. Die nötigsten Grundlagen, die man zur Erfassung der englischen
    Artikelbezeichnungen benötigte, hatte Frau Müller-Seitz mir dann auch in zwei Minuten erklärt. Und schon konnte ich die erste Artikelnummer eingeben.
    Jemand - Frau Müller-Seitz nannte nicht seinen Namen - hatte in mühevoller Kleinarbeit jede Artikelnummer der Reihe nach auf Listen erfasst und Bezeichnung und Kurzbeschreibung in die englische Sprache übersetzt. Diese Listen lagen auf einem Stapel zu meinen Füßen. Der Stapel war über einen Meter hoch.
    »Mein Gott«, sagte ich.
    »Wir haben viertausendachthundertundzehn verschiedene Artikel im Sortiment«, entgegnete Frau Müller-Seitz stolz.
    »Warum hat jemand sich die Mühe gemacht, diese Listen zu schreiben?«, fragte ich. »Dann hätte man sie doch auch direkt in den Computer eingeben können.«
    Frau Müller-Seitz schaute eine Weile ehrlich erstaunt drein.
    »Das wäre viel zu kompliziert gewesen«, sagte sie dann. »Außerdem hätten wir sonst keine Arbeit für Sie.«
    Damit hatte sie natürlich recht. Ich nahm das erste Blatt vom Stapel. Artikelnummer 100201, jumping saddle special, leather, brown, 18 Zoll, enter, tippte ich ein und hatte keine Ahnung, was ich da eigentlich tat.
    »Das klappt ja«, sagte Frau Müller-Seitz dennoch.
    »Dann kann ich Sie jetzt in Ruhe arbeiten lassen. Ich bin nebenan, wenn Sie mich brauchen sollten.«
    100502, jumping saddle special, leather, black, 18
    Zoll, enter, 102303 jumping saddle special, leather, brown, 17 Zoll, enter, und das nächste Blatt. Ich arbeitete schweigend vor mich hin. Die Zahlen gingen mir zunehmend schneller von der Hand, obwohl kein System zu erkennen war, ganz gleich, wie ich auch versuchte, meine grauen Zellen anzustrengen. Ab und zu blickte ich seitlich durch das Fenster in Frau Müller- Seitz' Büro. Wenn sie zurückblickte, lächelte ich ihr zu. Das zweite Blatt, das dritte Blatt, das vierte Blatt - nach einer Stunde, ich war gerade bei den elastic bandages, white/blue/yellow angelangt, geschah etwas Unvorhergesehenes: Der Computer begann zu piepsen, und auf dem Bildschirm erschien ein kleines blinkendes Feld: »ACHTUNG! Fehlfunktion!
    Bitte Kennwort eingeben.«
    Ich rief Frau Müller-Seitz herbei.
    »Was haben Sie denn getan?«

    »Gar nichts«, beteuerte ich.
    »Dann waren Sie zu schnell«, diagnostizierte Frau Müller-Seitz. »Wenn Sie die Enter-Taste zu schnell drücken, stürzt das Programm nämlich ab. Ich muss nun ein geheimes Codewort eingeben. Schauen Sie schnell mal weg.«
    Ich blickte diskret auf Seite. Es klickte geheimnisvoll.
    »So«, sagte Frau Müller-Seitz, »dann können Sie jetzt weitermachen.«
    Ich gab mir im Folgenden große Mühe, die Enter-Taste nicht zu schnell zu betätigen. Dabei verkrampfte sich meine Nackenmuskulatur schmerzlich. Eine Weile ging alles gut. Als ich mich aber den einzelnen Teilen der modischen Satteltaschenkollektion Olympia 2000 widmete, merkte ich, dass ich statt »back pack« aus Versehen
    »pack back« eingegeben hatte. Beim Versuch, diesen bedauerlichen Irrtum zu korrigieren, stürzte der Computer wieder ab.
    »Funktion nicht gestattet«, stand in einem blinkenden Feld auf dem Bildschirm. »Bitte Kennwort eingeben.«
    Kleinlaut rief ich nach Frau Müller-Seitz.
    »Was haben Sie getan?«, wollte sie wissen. Ich erklärte es ihr.
    »Da müssen wir ein geheimes Kennwort
    eingeben«, sagte Frau Müller-Seitz. »Ein anderes.«
    Diesmal war es mir zu blöd wegzugucken. »Hören Sie«, sagte ich. »Es wird sicher noch öfter vorkommen, dass ich mich verschreibe. Wäre es nicht besser, ich lernte, wie man solche Korrekturen durchführen kann? Dann muss ich Sie nicht jedes Mal rufen.«
    »Das geht nicht«, erklärte Frau Müller-Seitz fest.
    »Die geheimen Codewörter kennen nur Herr Hoppe, Herr Kernig, sein Partner, Frau Stattelmann in der Buchhaltung und ich.«
    »Dann müssen Sie ja ständig wegen jeder Kleinigkeit von einem Arbeitsplatz zum anderen rennen«, sagte ich verständnislos.
    »Ja«, seufzte Frau Müller-Seitz. »Aber anders geht es nicht. Schauen Sie doch bitte mal weg.«
    Das tat ich, aber nicht ganz so schnell, wie ich

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