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Die Laufmasche

Titel: Die Laufmasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Gier
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nachsichtig. »Da gehören noch die Reifröcke dazu.«

    Die Reifröcke lagen in Haufen auf dem Fußboden.
    Ich nahm den mit dem allergrößten Reifen.
    »Wie sehe ich aus?«, fragte ich Beate, die sich in ein primelgelbes Völantkleid zwängte.

Beate lachte sich halb tot.
    »Das können Sie tragen, mit der Taille«, meinte die Verkäuferin. »Aber der Ausschnitt sitzt nicht so, wie es sein sollte. Probieren Sie mal was in sechsunddreißig.«
    Sie half mir aus der himmelblauen Wölke und reichte mir eine reich verzierte
    Geschmacksverirrung in Weiß- Gold. Größe 36
    spannte um Brust und Taille. Trotzdem gefiel ich mir darin ungemein.
    »Jibbet dat Teil auch in achtunddreißig?«, fragte ich die Verkäuferin.
    »Das sind alles Unikate.« Ja, klar. Das leuchtete ein. Ich betrachtete mich begeistert im Spiegel.
    Wenn ich bis Silvester ein, zwei Kilo abnahm, würde es schon gehen. Allein das Dekolletee war's wert.
    Dem Pfarrer musste es in der Kirche bei der Erstnutzung ganz schön schwer gefallen sein, sich auf seinen Text zu konzentrieren, damals, als das Kleid noch reinweiß gewesen war. Beate stellte sich mit dem Primelgelben neben mich vor den Spiegel.
    »Na? Wie findest du mich?«
    »Du siehst aus wie eine überfahrene
    Telefonzelle«, antwortete ich und kicherte. »Ich nehm' das hier.«
    »Das ist eine gute Wahl«, fand die Verkäuferin.
    »Wenn Sie bis zum Fest noch ein bisschen Diät halten.« Sie hatte es also auch gesehen.
    Beate nahm ein rüschiges Gebilde in Rosa von der Stange. Die Verkäuferin eilte herbei, um ihr den Reißverschluss zu schließen.
    »Wie Dornröschen«, flüsterte ich hingerissen.
    »Fehlt nur noch ein Krönchen!«
    »Sieht gut aus, oder?«, fragte Beate. »Vielleicht sollte ich es auch für den Medizinerball im Februar ausleihen.«
    Bei dem Wort »Medizinerball« veränderte sich der Gesichtsausdruck der Verkäuferin merklich. Wo vorher eher genervte Langeweile zu lesen gewesen war, standen jetzt Dienstbeflissenheit und Respekt geschrieben. Beate schien es nicht zu bemerken.
    »Die Kronen sind da drüben«, sagte die Verkäuferin und wies mit der Hand ans andere Ende des Gewölbes. »Und auch die Hütchen und die Schleier. Die Leute vom Hildegardiskrankenhaus kommen ja auch jedes Jahr für den Medizinerball.
    Diese Saison gehen alle geschlossen als Mönche und Nonnen.«
    »Wie interessant«, murmelte Beate irritiert.
    Wir rafften unsere weiten Röcke und folgten der Verkäuferin zu den Kronen. Die Kopfbedeckungen füllten Regale über die gesamte Wandbreite, und allein die Kronen beanspruchten zwei Quadratmeter für sich. Es gab kleine verschnörkelte, die man auf dem Scheitel trug, oder zackige Reifen, die man wie einen Hut aufsetzte. Ich raffte nach einer goldenen mit falschen Rubinen und seufzte begeistert.
    Die Verkäuferin hustete. »Das geht jetzt seit drei Wochen so«, sagte sie zu Beate. »Ich habe ja Antibiotikas dagegen verschrieben gekriegt. Aber heute hatte ich solche Kopfschmerzen, dass ich zwei Aspirine genommen habe. Könnte es sein, dass sich die nicht mit dem Antibiotika vertragen?«
    »Antibiotikum, Singular«, verbesserte Beate zerstreut. Sie hatte immer noch nicht gemerkt, dass die Verkäufe
    rin sie für eine Ärztin hielt, seit sie die Bemerkung über den Medizinerball gemacht hatte.
    »Antibiotikum«, wiederholte die Verkäuferin artig.
    »Man trägt auch gern die Feenhüte zu den Rokokokleidern.«
    Sie reichte Beate eine spitze, glitterbesetzte Schultüte mit einem Tüllschleier. Genauso eine hatte Natalie Hoppe als Königin der Nacht getragen.
    Ich war hin und her gerissen. Hütchen oder Krönchen, das war hier die Frage. Die Verkäuferin trat noch näher an Beate heran und öffnete den Mund weit.
    »Da«, sagte sie und zeigte mit dem Finger in ihre Mundhöhle. »Letztes Jahr hatte ich was ganz Seltenes. Da hab' ich in der Uniklinik mit gelegen.
    Speiseröhrenentzündung. Das war was, sag' ich Ihnen. Dabei hat es ganz harmlos mit Sodbrennen angefangen.«

Beate glotzte hilflos in den
    Verkäuferinnenschlund.
    »Aha, aha«, meinte sie. Es klang ganz ärztinnenhaft.
    Ich blickte abwechselnd auf die Krone und das rei-zende Hütchen und konnte mich immer noch nicht entscheiden.
    »Was soll ich nehmen?«
    Beate löste ihren Blick von der Speiseröhre der Verkäuferin und betrachtete mich. »Kein Mensch wird das komisch finden«, meinte sie. »Jeder wird merken, wie ernst uns die Sache im Grunde ist.«
    »Mir egal«, sagte ich und drückte die Rubinkrone an meine

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