Die Launen des Todes
kreisförmig eingraviert, damit sie aufs Uhrgehäuse passt, sie war nicht einfach zu lesen. Deshalb hab ich’s abschraffiert, wie ich es als kleines Mädchen mit Münzen getan habe.«
Sie ging zu einer Schublade, kramte darin herum, dann reichte sie ihm ein Blatt Papier.
Sie hatte Recht, es war schwierig zu lesen; die Wörter standen in ihrer eigenwilligen Typographie so eng zusammen, dass man kaum erkennen konnte, wo das eine aufhörte und das nächste begann. Er zog das zusammenklappbare Vergrößerungsglas, das er immer bei sich trug, aus der Tasche, klappte es auf und betrachtete erneut die Lettern.
Es dauerte eine Weile, bis er, nicht ohne Mühe, den Satz entziffern konnte.
Deins bis die Zeit
über zerstörten Welten
in die Ewigkeit fällt
»Kann ich das haben?«, fragte er.
Sie sah ihn zweifelnd an.
»Ich lass es fotokopieren, dann schick ich es sofort wieder zurück.«
»Warum nicht? Mal was anderes, wenn jemand Interesse zeigt.«
»Ja, ich bin interessiert. Aber machen Sie sich bitte keine allzu großen Hoffnungen. Wann haben Sie Ihren Bruder zum letzten Mal gesehen?«
»Drei Wochen bevor er … starb.«
»Und da hatte er die Uhr noch?«
»Ganz bestimmt. Mein Gott, es macht mich wirklich fertig, wenn ich mir vorstelle, dass irgendein Wichser sie sich geschnappt hat. Und seinen Stoff auch. Ist das keinem seltsam vorgekommen? Dass sie nur ein paar Pillen gefunden haben, die zufällig herumlagen?«
Sie starrte ihn anklagend an.
»Welchen Eindruck hatten Sie von ihm, als Sie ihn das letzte Mal gesehen haben?«, fragte er. »Zu der Zeit musste er bereits gewusst haben, dass er mit dem Abgabetermin in Schwierigkeiten gerät.«
»Schien alles bestens. Einer seiner Kumpel sagte irgendwas in der Richtung, aber Jake lachte nur wie immer und meinte, ›alles in Ordnung, Schwesterlein‹. Wie er es immer tat.«
»Verstehe.« Er suchte nach den richtigen abschließenden Worten, die keine falschen Hoffnungen weckten. Er klammerte sich ja selbst nur an Strohhalme oder die Schatten von Strohhalmen, und angenommen, er würde durch irgendein Wunder herausfinden, dass es beim Tod von Jake Frobisher nicht mit rechten Dingen zugegangen war, welchen Trost konnte Sophie dann daraus schöpfen?
Er sagte: »Wenn ich schon mal da bin, könnte ich mir ja Jakes Zimmer ansehen. Welche Nummer hatte er?«
»Elf. Oben. Aber dort wohnt jemand.«
»Gut. Und vielen Dank, Miss Frobisher. Hören Sie, wie ich schon sagte, ich erwarte nicht, dass hier irgendetwas Neues herauskommt, aber so oder so, wir bleiben in Kontakt. Also, passen Sie auf sich auf! Und das mit der vermissten Uhr, das tut mir sehr Leid.«
»Mir auch«, sagte sie.
Sie richtete ihre gesamte Aufmerksamkeit auf den Spiegel. Sie schien in ihrem Kimono geschrumpft zu sein; als Pascoe ging, sah sie nicht sehr viel älter aus als Rosie, die, mit dem Morgenmantel ihrer Mutter bekleidet, Erwachsene spielte.
Die Tür zu Zimmer 11 wurde auf sein Klopfen hin geöffnet. Vor ihm stand ein junger Mann mit der Statur eines Rugby-Stürmers, was er nach den Stollenschuhen, die in einer Ecke lagen, und dem über die Heizung drapierten Ringeltrikot wahrscheinlich auch war. Warum er allerdings an diesem Samstagnachmittag nicht mit all den anderen schlammverkrusteten Hornochsen auf dem eiskalten Feld herumrannte, war unklar.
Der Grund dafür wurde offenbar, als er den Mund aufmachte.
»Ja?«, sagte er mit schwerem ausländischen Akzent – so klang es zunächst. »Kann ich Ihnen helfen?«
Doch kein Ausländer, sondern ein echter Yorkshireman, der entweder auf dem besten Weg zu einer schweren Attacke der gefürchteten Kung Flu war oder sie gerade hinter sich hatte.
Pascoe wandte den Kopf ab und stellte sich vor. Vom Risiko abgesehen hatte der Grippevirus den positiven Effekt, dass der junge Mann, der laut eigener Angabe Keith Longbottom hieß, keinerlei Neugierde äußerte, warum Pascoe das Zimmer zu sehen wünschte, sondern lediglich sagte: »Machen Sie sich’s bequem, Kumpel«, und sich auf das ungemachte Bett fallen ließ.
Pascoe sah sich um. Eine sinnlose Beschäftigung. Was gab es schon zu sehen?
»Kannten Sie Jake Frobisher?«, sagte er.
Longbottom öffnete die Augen, umrundete geistig einige Male die Frage, dann sagte er: »Ja. Hat ja im gleichen Haus gelebt, da lernt man sich schon kennen.«
»Sie haben letztes Jahr schon hier gewohnt?«
»Ja.«
Pascoe dachte darüber nach, dann fuhr er fort: »Aber offensichtlich nicht in diesem Zimmer?«
»Nein. Ich meine,
Weitere Kostenlose Bücher