Die Launen des Todes
sie verloren hatte. Mit dem Teil ihres Ichs, der mit Sergius gestorben war, hatte sie die durch nichts zu ersetzende Nähe zu einem Verwandten verloren; in Hats Umarmung fand sie eine neue Zugehörigkeit zu einem Vertrauten, die versprach, ihre Unversehrtheit wiederherzustellen.
Die Wohlgesinnten verstehen ihr Handwerk. Schuld, Schrecken, Selbstverachtung, das sind die Kohlen, die dieses Feuer nähren. So hoch man sie auch schlichtet, heißer können sie nicht werden. Es gibt eine Tiefe, in die man nicht weiter sinken, eine Pein, unter der man sich nicht schrecklicher krümmen kann. Was also macht eine frustrierte Furie?
Ewigkeiten zuvor hatten sie ihre Lektionen gelernt.
Auf einen Ertrinkenden schüttet man kein Wasser, man lässt ihn trockenes Land erblicken.
Wenn sie in Hats Armen erwachte, konnte sie einen Augenblick lang vor sich eine grüne, freundliche Landschaft sehen, deren sanft geneigte Hügel in goldenes Sonnenlicht getaucht waren. Und dann schloss sich ein weiß-glühendes Metallband um ihren Schädel, ihr Kopf wurde herumgeworfen, und erneut sah sie, was sie hinter sich gelassen hatte.
Sie war eine Mörderin, schlimmer noch, eine Serienkillerin, eines der Ungeheuer, die in Fernsehdokumentationen präsentiert werden und bei denen man sich wundert, wie gewöhnlich, wie alltäglich sie doch scheinen, die einen spekulieren lassen, welche verpfuschten Gene, welche ruinierte Kindheit das Ungeheure in ihnen hatten entstehen lassen.
Sie hatte neun Menschen umgebracht – nein, nicht so viele –, den ersten beiden, dem AA -Mann und dem Jungen mit der Bouzouki, hatte sie beim Tod nur assistiert. Ihr Tod galt ihr als Zeichen, dass sie sich auf dem richtigen Weg befand – ein Weg, der sie weit jenseits jeder mathematischen Gleichung zu sieben unstrittigen Morden geführt hatte, erledigt mit dem Messer, mit Gift, einer Schusswaffe, durch Stormschlag …
Irregeleitet (es war Selbsttäuschung, oder? Das wusste sie jetzt. Wusste sie es wirklich?) durch den Glauben, sie könnte mittels einer alphabetisch gekennzeichneten Blutspur wieder zu ihrem toten Bruder gelangen und mit ihm reden und ihm etwas von dem verlorenen Leben zurückgeben, das ihm durch ihre vorsätzliche, egoistische Dummheit gestohlen worden war, hatte sie diese fürchterlichen Dinge getan. Und nicht unwillig, nicht unter Zwang, sondern mit Eifer, Freude sogar, hatte sie sich schließlich an ihrem Gefühl der Macht ergötzt, der Unverwundbarkeit, bis die Spur sie zu ihrem letzten Opfer führte, ihrem Boss in der Bibliothek, Dick Dee, einem Mann, den sie mochte und bewunderte.
Dies quälte sie so sehr, dass sie innehielt. Und als sie sah, dass die eingebildeten Zeichen deutlich auf den Mann verwiesen, in den sie sich verlieben sollte, begann sie aufzuwachen wie aus einem Traum, nur um dann festzustellen, dass ihre schwarzen Erinnerungen sie weiterhin in einem Albtraum gefangenhielten.
War Sühne möglich? Oder – Gott möge es verhüten – ein Rückfall?
Sie wusste es nicht. Nichts, sie wusste nichts … manchmal überstieg selbst das Entsetzen so sehr ihr Fassungsvermögen, dass sie beinahe glaubte, alles wäre wirklich ein Traum gewesen … sie brauchte Hilfe, das wusste sie … aber mit wem hätte sie reden können? Nur mit Hat, aber das war undenkbar.
Also, vergiss die Zukunft, sie hatte keine Zukunft, sie hatte sie für die Vergangenheit eingetauscht. Kein gerechtes Tauschgeschäft, kreischten die Furien. Wir wollen das Wechselgeld! Aber es musste genügen. Inmitten eines Wirbelsturms verkriecht man sich, wo immer es geht.
Sergius’ Asche loszuwerden war kein Schritt nach vorn, aber es war ein Schritt innerhalb ihres begrenzten Rahmens, der sie in der Gegenwart hielt.
Asche zu Asche … Staub in die Mülltonne. So wurde man ihn normalerweise los, doch dazu konnte sie sich nicht durchringen.
Stattdessen überquerte sie, den Müllbeutel fest an die Brust gepresst, die schmale Straße und drückte das quietschende Tor zum Kirchhof auf. Vor ihr ragte der Turm auf, ein schwarzes und dunkelgraues Gebilde vor dem Winterhimmel. Dies war eine alte Begräbnisstätte. Hier faltete ein Marmorengel seine trauernden Schwingen, dort ragte ein granitener Obelisk anklagend in den Himmel, die meisten Stätten allerdings besaßen bescheidene Grabsteine, viele von ihnen so verwittert oder von Flechten überzogen, dass ihre Botschaften an die Lebenden kaum noch mit dem Finger oder dem Auge aufzuspüren waren. Nur wenige waren neueren
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