Die Lauscherin im Beichtstuhl - Die Lauscherin im Beichtstuhl
erworben.«
»Verwandelt Ihr Wein in Blut?«
»Jehan, du bist ein entsetzlicher Junge. Man stellt doch nicht die Eucharistie in Frage!«
»Mein Vater tut das schon. Er sagt, es ist alles Schwindel und Hokuspokus für die Leichtgläubigen.«
»Ein klein wenig mehr ist doch daran, Jehan. Das Abendmahl ist eine Gedenkfeier. Wenn wir eines Menschen gedenken, dann nehmen wir im Geiste Verbindung mit ihm auf. Stimmst du mir da zu?«
Jehan überlegte einen Augenblick und nickte dann.
»Ja, das ist richtig. Wenn mein Vater unterwegs war, dann habe ich abends immer ein Gebet für ihn gesprochen. Und ihn mir dabei vorgestellt. Meint Ihr das?«
»Genau. Du hast dir sein Gesicht vorgestellt und sicher auch mit ihm Zwiesprache gehalten.«
»Ja, das habe ich auch manchmal getan.«
»Hat er dir jemals etwas geschenkt, an dem du sehr gehangen hast?«
»Er hat mir viel geschenkt, aber das hier trage ich immer bei mir.« Jehan nestelte etwas an einem dünnen Kettchen aus seinem Wams. »Das ist ein Haifischzahn! Von einem Hai, den er selbst getötet hat.«
»Warum trägst du ihn immer bei dir?«
»Weil... weil... er ist mir dann näher. Er hat mir von dem schrecklichen Kampf erzählt, den er mit dem Raubfisch geführt hat. Er selbst hat zwei seiner Finger dabei verloren. Wenn ich diesen Zahn in die Hand nehme, kann ich manchmal fühlen, wie entsetzlich es für ihn war und wie mutig er ist.«
»Du nimmst ihn in die Hand, wenn du deine Zwiesprache mit ihm hältst?«
»Ja. Ist das schlimm?«
»Aber nein. Es besteht eine starke Verbindung zwischen deinem Vater, dem Hai und dir. Eine aus Angst, Tod und Liebe. Und doch es ist nur ein beliebiger Haifischzahn.«
»So, wie der Wein und das Brot...«
»So, wie der Wein und das Brot. Eine Verbindung.« »Wie das Haar der Fee?«
Verblüfft neigte sich Melvinius vor.
»Eine interessante Frage, Jehan. Ich kann sie dir nicht beantworten.«
»Glaubt Ihr an Feen?«
Jetzt lachte Melvinius wieder.
»Jehan, du und ich, wir sind in einem Land aufgewachsen, in dem Geschichten von Feen, Helden und Zauberern, wundersamen Meereswesen, tanzendenSteinen und singenden Schwertern jedem Kind vom Tag seiner Geburt an erzählt und vorgesungen werden. Es fällt verdammt schwer, nicht an sie zu glauben.«
Jehan kicherte ebenfalls. Dann wurde er ernst und sah mit glühendem Gesicht zu Melvinius auf.
»Ihr seid ein sehr netter Mann, Pater.«
Melvinius legte Jehan die Hand auf die Schulter und sagte mit einer Stimme, die von Liebe und Zärtlichkeit durchdrungen war: »Und du bist ein sehr netter junger Mann, Jehan.«
Beide verharrten in ihrer stillen Zuneigung, und ich erkannte plötzlich das, was auch die scharfsichtige Kristin einst bemerkt hatte. Sie waren sich ähnlich, der alte Mann und der Knabe. Nicht vom Aussehen her, ihre Fellfarbe war ganz anders, ihre Gesichter ähnelten sich wenig, wobei das am Altersunterschied liegen konnte. Aber es gab etwas in ihrer Haltung, in ihren Bewegungen, in der Art der Stimme und der Blicke, worin sie sich glichen. Und es war etwas, das nicht Meiko, sondern nur ihnen beiden eigen war. Mäusemist, wann immer ich eine Frage beantwortet bekam, türmten sich in Folge gleich wieder neue auf.
Wer war Melvinius? Warum leuchtete der Kristall in seiner Hand? Was verband ihn mit Jehan? Was verschwieg er Meiko? Was war geschehen, dass er gerade jetzt mit den beiden hier und an dieser Stelle zusammentraf?
Der ungebärdige Schwanz flutschte unter meiner Pfote hervor und peitschte wild über einen rotgoldenen Buchrücken.
Jehan begleitete Melvinius zu seinen Gebeten in die Basilika und hinterher zum Essen ins Refektorium. Der Pater machte sein Versprechen wahr, den Jungen nicht aus den Augen zu lassen. Den Feenstein aber hatten sie ungeschützt in der Bibliothek liegen lassen, und so empfand ich es als meine Aufgabe, über ihn zu wachen.
Ich tat es gerne.
Obwohl mich die Neugier juckte wie ein Floh im Pelz.
Ich gab dem Juckreiz nach.
Ich näherte mich dem Kristall und dachte an die schöne Fee in jener anderen Welt, deren Haar darin schimmerte. Ganz vorsichtig legte ich die Pfote auf den Stein.
Ein leichtes Vibrieren ging durch ihn hindurch, zart wie das Summen einer Eintagsfliege. Mein empfindlicher Ballen nahm die ersten Anzeichen der Erwärmung wahr, und das Sehnen in meinem Herzen verstärkte sich. Wie aus einem Nebel tauchte das liebliche, ebenmäßige Gesicht einer Frau vor meinem Augen auf. Ihr goldenes Haar umfloss sie wie Wasser im Sonnenuntergang, doch
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