Die Lautenspielerin - Roman
geglaubt, er spreche von einem Fremden. Sie war ihm dankbar, dass er seine Last mit ihr geteilt hatte. Geschehenes konnte nicht ungeschehen gemacht und vergessen werden, aber man konnte daraus lernen. Und genau das gedachte sie zu tun.
Außer Pierre durfte niemand wissen, dass sie im Haus war, vor allem Guillemette nicht, die sich seit der Geburt ihres Sohnes Martial wie die Herrin aufführte. Der junge Diener hob den Finger an die Lippen, und Jeanne drückte sich in die dunkle Ecke vor dem Treppenaufgang.
»Was stehst du da herum, Pierre? Ich finde sicher eine Aufgabe für dich, wenn du nichts zu tun weißt«, ertönte die schnippische Stimme von Guillemette, die in einem schwarzen Kleid aus edlerem Stoff, als einer Dienerin zukam, vor Pierre stehen blieb.
»Daran zweifle ich nicht, Guillemette. Und jetzt kümmer dich um deine Angelegenheiten. Hast vielleicht schon ein zweites Brot im Ofen? Sorgst fürs Alter gut vor!«, schoss Pierre zurück.
Mit einem unterdrückten Fluch rauschte Guillemette davon.
»Beim heiligen Honorius! Rasch, Madame«, drängte Pierre und ließ Jeanne vor sich die Treppe zur Werkstatt ihres Vaters hinaufeilen.
Während er die Tür aufhielt, flüsterte er: »Ich kratze zweimal, wenn Ihr gehen müsst.«
Jeanne nickte und schlüpfte hindurch. Sie fand ihren Vater in Gedanken versunken vor der Werkbank und befürchtete das Schlimmste, doch als er sich umwandte, seufzte sie erleichtert, ging zu ihm und umarmte ihn.
»Mignonne« , murmelte Endres, und Jeanne entfuhr ein unterdrückter Klagelaut.
Sie erstickte ihr Schluchzen an seiner Brust.
»Meine Kleine, ist ja gut.« Ihr Vater klopfte ihr beruhigend den Rücken. »Komm, setz dich zu mir. Es gibt viel zu erzählen. Die Tage rinnen mir wie Sand durch die Finger.« Er ließ sie los und zog einen Stuhl heran. »Komm hierher, ganz dicht zu mir.«
Überglücklich, ihren Vater bei wachem Verstand vorzufinden, ließ sich Jeanne neben Endres nieder und griff nach seiner Hand.
»Deine Mutter hat mich vergangene Woche besucht, oder war es gestern? Sie sah nicht wohl aus, aber sie kam gerade von einer Reise in die Champagne zurück. Ich weiß nicht mehr, warum …« Nachdenklich kräuselte er die Stirn.
»Vater, das war ich! Mutter ist schon lange tot!«, sagte Jeanne kummervoll.
Endres rieb sich die Schläfe. »Was rede ich für Unsinn! Du darfst mich nicht so wirr daherplappern lassen, Jeanne.« Er lächelte und zeigte auf seine Werkbank, auf der sich seit ihrem letzten Besuch kaum etwas verändert hatte. »Schau, ich baue eine Theorbe für den Kurfürsten August. Die spielst du auf dem Dresdner Hofball nach Himmelfahrt, und dann werden die Bestellungen nur so fließen!«
Sie brachte es nicht übers Herz, ihm die Freude zu nehmen, denn seine Augen leuchteten. »Ja, Vater.«
Er griff nach einer Dreikantfeile und schärfte eine schmale Säge. »Ich muss mich ranhalten!« Plötzlich hielt er inne. »Kannst du diesem Mann, der mich manchmal besucht, nicht sagen, dass er mich nicht maßregeln soll? Ich weiß schon, was ich zu tun habe! Das habe ich immer gewusst!«
Jeanne schluckte. Es musste etwas geschehen! Sie konnte ihren Vater nicht länger in diesem Haus belassen. Sie musste ihn zu sich holen, um für ihn zu sorgen. Es kratzte an der Tür, und sie erhob sich rasch.
»Ich muss gehen, Vater. Aber ich komme bald wieder, und dann haben wir mehr Zeit füreinander. Das verspreche ich dir. Sag bitte niemandem, dass ich hier war, hörst du?« Sie küsste ihn auf das weiße Haar.
»Bist ein gutes Kind. Aber jetzt geh, mignonne , ich habe noch viel zu arbeiten.« Eifrig zog er die Säge hin und her.
Vor der Tür wartete Pierre und zischte aufgeregt: »Madame, Ihr müsst sofort durch den Hintereingang verschwinden. Der Herr ist unerwartet zurückgekehrt.«
Sie raffte ihre Röcke und folgte dem Diener. Hinter einem Schrank gab es eine schmale Geheimtür, die in ein enges Treppenhaus führte, in dem es nach Mäusedreck und Küchenabfällen roch. Je näher sie dem Erdgeschoss kamen, desto deutlicher wurden die Küchengeräusche, bis sie wieder erstarben, als sie der dunklen Stiege in den Keller hinunter folgten. Pierre hielt eine Öllampe, um nicht auf den glitschigen Holzstufen auszugleiten. Sie gelangten in einen schmalen Gang. Eine endlose Weile gingen sie über feuchten Boden, und wenn sie mit der Hand versehentlich die Wand berührte, zuckte sie angewidert zurück. Alles war modrig und stank nach Fäulnis und Verfall. »Hier war ich noch
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