Die Lautenspielerin - Roman
gestoßen.
»Dann mach nicht solche Scherze!«
»Scherze? Wenn du wüsstest, woran ich mal geglaubt habe«, meinte Hippolyt trocken.
»Erzähl es mir doch. Jetzt wäre die passende Gelegenheit.«
Sie vermieden die Hauptstraßen und hielten sich auf Waldwegen und ausgetretenen Pfaden entlang der Flüsse. Nur wenige Menschen waren unterwegs, niemand nahm Notiz von den beiden Männern auf dem alten Gaul.
Hippolyt räusperte sich. »Die Kutte. Ich war Benediktinermönch.«
»Warum bist du ausgetreten?« Sachsen war reformiertes Territorium, und die meisten Klöster waren enteignet worden. Die reichen Kirchengüter waren den Fürsten allzu willkommen, halfen sie doch, die Kassen aufzufüllen, auch wenn es hieß, dass die Erträge der Klöster und Ländereien den reformierten Kirchen zugute kommen sollten. Tatsächlich war die Mehrzahl der reformierten Pfarreien auf die Einnahmen von Hochzeiten, Taufen und Begräbnissen angewiesen.
»Metten. Ich bin als Fünfjähriger in die Abtei zu Metten gegeben worden.« Es dauerte einige Minuten, bis Hippolyt weitersprach, und Gerwin drängte ihn nicht.
Nachdem sie stetig bergauf geritten waren, folgten sie nun einem bewaldeten Hügelrücken. Irgendwo dort unten lag Freiberg. Weiter oben befanden sich die Minen, aus denen entferntes Hämmern ertönte, die Domuhr kündete die zehnte Stunde an. Feiner Nieselregen, der teilweise in Schneeflocken überging, die sofort wieder schmolzen, ging hernieder. Gerwin zog die Kapuze tief ins Gesicht und dachte darüber nach, dass Hippolyt aller Wahrscheinlichkeit nach aus einer adeligen Familie stammte, denn in katholischen Gebieten war es Tradition, den dritten Sohn für die geistliche Laufbahn zu bestimmen.
»Mit fünf Jahren haben sie mich fortgegeben. Ein Mal hat mich meine Mutter in der Abtei besucht. Ein Mal in zehn Jahren. Lass uns ein Stück zu Fuß gehen, Gerwin.«
Sie stiegen beide ab, und während Gerwin das müde Pferd führte und in den Wald horchte, um auf etwaige Reiter gefasst zu sein, erzählte Hippolyt weiter von seiner Kindheit in der Abtei von Metten.
»Es gab einen Schlafsaal für die Jungen meines Alters. Blanker Stein, zugige Fenster, und wir hatten nichts als dünne Laken auf harten Pritschen. Nun, das wäre zu ertragen gewesen. Tagsüber wurden wir unterrichtet, lernten Latein, das Kopieren alter Schriften und das Illuminieren. Jungen ohne jegliches Talent
wurden der Küchenarbeit zugeteilt. Zur Erntezeit gingen wir alle auf die Felder. Die Nächte waren es, die uns den Schlaf nahmen, uns Alpträume brachten und uns lehrten, dass es keinen Gott der Liebe gibt.« Hippolyt holte tief Luft, bevor er auf seinen Stock gestützt weitersprach. »Jede Nacht holten sie einen von uns. In jeder einzelnen Nacht verkrochen wir uns unter die Laken, kauerten uns zusammen und hofften, uns klein genug zu machen, dass sie uns nicht fanden. Jerg von Rechbergs Pritsche war neben meiner. Dreißig Schlafstätten gab es in dem Saal. Jerg war klein und schmächtig, und sie holten ihn öfter als mich. Wir wurden ins Badehaus der Novizen gebracht, heimlich, denn der Vater Abt wusch seine Hände in Unschuld. Was nicht sein darf, kann auch nicht sein.«
»Hippolyt …«
»Wir haben unser Schicksal nicht hingenommen, Gerwin. Es gab noch zwei Jungen, etwas älter als wir. Wir vier haben uns verschworen und schwere Schuld auf uns geladen. Unverzeihliche Schuld.« Der Wundarzt schwieg kurz. »Non sum ego, qui fueram. 9 «
Hippolyt blieb stehen und ließ den Blick über die Baumwipfel gleiten. Es brauchte wenig Phantasie, sich auszumalen, was den Jungen in der Abtei widerfahren war, und Gerwin fand sein eigenes Schicksal zum ersten Mal vergleichsweise harmlos. Schläge, Hunger und Demütigungen hinterließen Spuren, die verblassten, doch die Narben auf Hippolyts Seele schmerzten noch heute. Von der Seite betrachtete Gerwin das Profil seines gelehrten Freundes und hatte nun eine Ahnung, woher der Ausdruck tiefer Schwermut, der sich immer wieder in Hippolyts Augen stahl, rührte.
Der Weg machte eine scharfe Biegung in den Wald hinein. Da die Zweige tief hingen, gingen sie weiter neben dem Pferd her. Krähen flatterten auf, und als sie näher kamen, sahen sie den
Rest eines Hasen neben einem Baumstumpf liegen. Ein Mann kam so unvermittelt um die Biegung, dass Gerwin schwören wollte, er hätte auf sie gewartet. Er griff nach seinem Dolch, und im nächsten Moment gefror ihm das Blut in den Adern: Der Mann, der aus dem Schatten der Tannen trat,
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