Die Lebenskünstlerin (German Edition)
nach Sado-/Maso-Praktiken. Gehört das In-die-Windeln-Scheißen denn überhaupt dazu?
Von einem Dom, dem Sub, Top und Bottom ist hier die Rede. Zuerst verstehe ich nicht viel davon, was ich da lese. Es geht anscheinend um den Reiz, die eigenen Schranken mal zu durchbrechen, um Unterwerfung und Macht, um Dominanz.
Wissenschaftlicher ausgedrückt, um sexuelle Erregung und Befriedigung durch Erleiden von Misshandlungen beim Masochismus und Lustbefriedigung durch Quälen des Partners beim Sadismus.
Die ganze Palette geht von harmlosen Fessel- und Schlagspielen bis hin zu Sodomie, dem Sex mit Tieren und Fäkaliensex.
So wie ich die Variationen dieser Neigungen einschätze, ist mein gefallener Erzengel selbst in diesem Bereich eine extreme Nummer. Gegen ein paar Klapse auf die Arschbacken oder ein paar Rollenspiele hätte ich absolut nichts einzuwenden. Das klingt sehr kreativ und spannend.
In der Therapiestunde erzähle ich nur am Rande von Raphael. Ich schäme mich. Die altbekannte Traurigkeit breitet sich wieder beharrlich in mir aus. Und bodenloses Selbstmitleid. Wieso habe ich immer soviel Pech, kann ich nicht auch mal Glück haben? Ein Ausflug ins Jammertal steht an, dem ich kaum entweichen kann.
Ich versuche mich wieder zu fangen, aber es gelingt mir nicht. Die Tage sind düster und die Nächte einsam.
Geht es mir allzu dreckig, stürze ich früher oder später kopflos in diverse Ablenkungen. Treffen mit Freundinnen, Konzerte, Theater, Kino, Restaurantbesuche, Einkaufstouren stehen dann an. Oberflächlich gesehen hellt sich meine Stimmung wieder etwas auf. Innerlich fühle ich mich im wahrsten Sinne des Wortes einfach nur bekackt.
Ich besuche wieder regelmäßiger die Selbsthilfegruppen, um mich dort mit Menschen zu treffen, denen es vermeintlich noch schlechter als mir geht. Dort ist alles anonym, ich kann reden ohne unterbrochen zu werden und höre von den emotionalen Schwierigkeiten der anderen.
Der kleine dicke Klaus hat eine Sozialphobie und klagt herzzerreißend über die dysfunktionale und destruktive Struktur in seiner Herkunftsfamilie. Er ist weit über fünfzig und beruft sich immer noch auf seine erlernte kindliche Hilflosigkeit. Wenigstens hat er sein Vokabular bezüglich seiner Störungen dem psychologischen Medizinerlatein angepasst.
Neben ihm sitzt Marlena, eine wunderschöne Frau mit dichtem schwarzen Haar. Sie ist tablettenabhängig, um die dreißig bunte Pillchen müssen es jeden Tag sein. Dabei hat sie auf dem ersten Blick alles, was eine Frau sich wünschen kann: Einen netten Mann, zwei gesunde Kinder, genug Geld, einen interessanten Job und dazu ist sie noch verdammt schlank und hübsch. Aber was nützt das alles, wenn die Sucht das Leben bestimmt.
Mir gegenüber sitzt Markus, er findet angeblich wegen seiner Hemmungen keine Partnerin, aber ich denke, er hat eher ein verleugnetes Alkoholproblem.
Hier sitzen Müllmänner neben Lehrerinnen und Hausfrauen, Bürgermeister neben kirchlichen Angestellten. Alle sind vertreten und jammern im Gleichklang über ihre Neurosen, Psychosen, Depressionen und ihren Schwierigkeiten, das Leben, so wie es ist, anzunehmen und einfach zu leben.
Erfahrung, Kraft und Hoffnung teilen heißt es in den Schriften der unabhängigen Gruppen. Bei der Ursprungsgruppe, den Anonymen Alkoholikern, klappt das erfahrungsgemäß wunderbar. Doch hier gelingt es nicht immer. Es artet gelegentlich in kollektives Jammern aus, manchmal auch im Profilieren von Einzelnen, der Nabelschau der Depressiven.
Das lenkt mich richtig gut ab, das Schmollen, beleidigt sein, die Selbstgerechtigkeit. Hier sind alle emotional verstopft. Ich habe Heimatgefühle.
Die Meisten sind depressiv, sie spielen die Rolle der bedauernswerten Verlierer, deren Leben durchweg von anderen bestimmt wird. Immer haben die anderen Unrecht, sind böse, dumm und schuldig oder wissen nicht, worum es geht. Tyrannei, getarnt als Märtyrertum.
Jedenfalls fühle ich mich wohl bei den emotional Gestörten, wie ich uns liebevoll nenne. Ihre bedingungslose Annahme nährt meine Seele und mein Schmerz wird blasser und überschaubarer im Vergleich zu dem, was ich dort alles höre. Zudem himmeln und schmachten die meisten Männer mich an. Das gefällt mir natürlich.
Im Moment schaffe ich es nicht, mich ausschließlich oder überhaupt um meine eigenen Defizite und diesem unsäglichen Schmerz zu kümmern. Die Probleme, aber natürlich auch die Heilungsfortschritte der Gruppenmitglieder, lenken mich
Weitere Kostenlose Bücher