Die Lebenskünstlerin (German Edition)
Taschentuch. Nach dem kräftigen Schnäuzen winselt er weiter: „Wir sind total verschuldet und hätten dieses Haus hier gar nicht kaufen dürfen. Für was braucht sie einen Jeep mit Allradantrieb, wenn sie sowieso nur zum Einkaufen um die Ecke fährt?“
Ich beabsichtige das Thema zu wechseln und hoffe ihn damit zu beschwichtigen.
Sebastian lässt sich nicht bremsen. Er redet sich jetzt erst richtig in Rage: „Vielleicht sehe ich aus wie ein langweiliger Geschäftsmann, aber auch ich habe Bedürfnisse und Sehnsüchte.“
Verschlingend mustert er meinen Körper.
Oha, ich proste ihm zu, in der Hoffnung, dass er den Faden verliert. Doch seine Augen schimmern glasig, der Alk, der Frust, die unerfüllten Bedürfnisse. Hilfe, ich muss hier raus.
It´s time to say goodbye - singt Andrea Bocelli. Recht hat er.
„Ich bin auf Nicole auch nicht sonderlich scharf“, klärt der gute Sebastian mich ungefragt auf.
Reflexartig schaffe ich mir eine kleine Sicherheitszone und rücke von dem frustrierten Ehemann ab.
„Vielmehr stehe ich auf vollbusige goldige Langhaarige, genauso wie du eine bist.“
Dabei starrt er mich abwegig verklärt an und rückt mir auch noch auf die Pelle.
Allerdings nicht lange, denn die scharfe Stimme seiner flachbrüstigen, kurzhaarigen Ehefrau schießt wie ein Blitz in seinen unheilvollen Monolog. Ich kippe den ekligen Wein in einem Zug hinunter, während Nicole lauthals losschimpft, dass dieser böse Sebastian schon einmal beim ehelichen Sex meinen Namen gestöhnt hätte.
Ach, sag bloß. Ich verabschiede mich diskret.
Während hinter mir wildes Geschreie zwischen den Eheleuten losgeht, schließe ich möglichst lautlos die Gartentür. Dramen und Theater gibt es genug in meinem Leben, ich habe keinen Bedarf auf zusätzliche.
Tags darauf will ich mich von den Gedanken an diesen unglückseligen Abend ablenken und beschließe, mit dem Fahrrad eine Tour durch den Rodenbacher Wald zu machen. Tim hat neulich die beiden Reifen aufgepumpt und mein zitronengelbes Rad auf Vordermann gebracht. So steht meinem Vorhaben nichts im Wege.
Zuerst genieße ich den samtigen Fahrtwind, dieses fabelhafte Wetter. Von meiner Wohnung gelange ich nach wenigen Metern in den Wald, trete in die Pedale und sauge den typischen Duft des Waldbodens in meine Lungen. Da heute Sonntag ist, begegne ich vielen Wanderern und Radfahrern.
Bodenlose Traurigkeit überrollt mich unerwartet. Weshalb nur? Ich kann es nicht klar zuordnen. Mag sein, dass mich diese Aktion an die Zeit mit den Kindern erinnert. An gemeinsame Radtouren. Ich will diese Gefühle wegwischen und konzentriere mich auf die Menschen, die mir begegnen, was es auch nicht besser macht: Familien, Mama, Papa und die lieben Kleinen. Der Familienhund am Kinderwagen angeleint. Oder verliebte Pärchen, innig Arm in Arm, sich anschmachtend.
Bestürzt stelle ich fest, dass ich das offensichtliche Glück der anderen Menschen im Moment überhaupt nicht ertragen kann.
Mir schießen Tränen in die Augen und ich biege an einer Stelle ab, die als Sackgasse endet und somit vermutlich keine Menschen mehr meinen Weg kreuzen.
Neid, Eifersucht, Selbstmitleid: Pfui Teufel.
Ein großer dicker Stein dient mir als Sitzplatz, während ich meine Nase putze und versuche, meinen Gefühlswirrwarr zu ordnen. Es tut so weh, alleine zu sein. Niemand liebt mich. Warum muss ausgerechnet ich an so einem schönen Tag alleine sein?
Das Schluchzen kann ich kaum beherrschen. Jetzt sitze ich hier auf einem moosbedeckten Stein mitten im Wald und traue mich nicht mehr nach Hause, weil ich wegen meiner Einsamkeit fürchterlich heulen muss. Selbst die Affirmation Dankbarkeit statt Selbstmitleid hilft nicht weiter.
Zutiefst bereue ich, die Einladungen meiner Freundinnen für heute abgelehnt zu haben. Ich wollte mir mal wieder beweisen, dass ich nichts und niemanden brauche. Fieberhaft möchte ich den Schmerz reduzieren und rufe so lange mit dem Handy die gespeicherten Rufnummern durch, bis endlich jemand abhebt. Meine tiefe Trauer und meine Angst vorm Alleinsein erwähne ich allerdings nicht. Mit einer Verabredung für den Abend fahre ich nun gelassener nach Hause.
In mir gärt ein Bedürfnis nach Liebe und Zugehörigkeit. Ich weiß, dass ich erst mal lernen muss, mich selbst zu lieben. Aber zu wissen, was zu tun ist und es dann wirklich zu tun, das sind zwei Paar Schuhe. Wissen ist erst Macht, wenn ich es umsetzen und anwenden kann. Sonst ist es totes Kapital. Und ich bin
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