Die Lebküchnerin
nicht zu ihnen? Hatte er die Schergen des Provinzials gar in die Flucht geschlagen?
Benedicta hielt den Atem an und überlegte, ob sie Julian diesem unheimlichen Fremden überlassen sollte. Nein!, entschied sie schließlich. Niemals! Ich muss ihn retten.
Beherzt trat sie einen weiteren Schritt zur Seite und trat dabei auf einen Ast. Ein knackendes Geräusch durchbrach die Stille des Waldes, und Benedicta schreckte hinter den Baum zurück.
Der Fremde aber fuhr herum, griff behände nach seiner Armbrust, legte einen Pfeil ein und schoss ihn blitzschnell in ihre Richtung ab.
Benedicta hörte, wie sich der schwere Bolzen tief in den Stamm der Eiche bohrte. Zitternd ergriff sie Agnes’ Hand. Es tat ihr leid, dass sie die Freundin mit in Gefahr brachte.
Der Mann, der den Pfeil aus der Hocke abgeschossen hatte und immer noch am Boden neben Julian kauerte, sprang nun flink auf und näherte sich auf leisen Sohlen dem Baum.
Warum nur hat er die Kapuze so tief ins Gesicht gezogen?, fragte sich Benedicta, die das Antlitz ihres Henkers sehen wollte, zum wiederholten Mal. Dass er sie umbringen würde, stand für sie außer Frage. Sie wurde ganz ruhig bei dem Gedanken, dass ihr letztes Stündlein geschlagen hatte. Das ist die Strafe des Herrn, dachte sie.
Der Fremde stand nun fast vor der Eiche, doch bevor er sie umrunden konnte, ertönte ein lautes Gewieher.
Das Pferd – ich habe den Schwarzen völlig vergessen!, schoss es Benedicta durch den Kopf. Jetzt spätestens ahnt er, dass sich noch jemand auf der Lichtung aufhält.
Der Mann drehte sich langsam um, entfernte sich von der Eiche und ging mit ruhigem Schritt auf den Schwarzen zu, der sich in seiner ganzen Schönheit aufgebäumt hatte.
»Ruhig, mein Alter, ruhig!«, sprach der Fremde fast zärtlich auf das Tier ein, das nun ganz ruhig dastand und sich von dem Mann über die Mähne streichen ließ. Doch dann wandte er sich von dem Pferd ab, hockte sich wieder neben Julian und drehte ihn ächzend auf die Seite. Er untersuchte seinen Rücken, tastete ihn ab und blickte sich, als er die Wunde entdeckt hatte, verwundert um. Für den Bruchteil eines Augenblickes konnte Benedicta seinen Mund sehen. Einen strengen Mund mit zusammengepressten Lippen.
An der Eiche, hinter der sich die beiden jungen Frauen versteckt hielten, blieb sein Blick hängen. Das allerdings konnte sie nur erahnen, denn die Augen waren immer noch unter der Kapuze versteckt.
»Er hat gesehen, dass der Bolzen herausgezogen wurde. Ich gehe zu ihm und bitte ihn, Julian aus diesem schrecklichen Wald fortzubringen. Er ist keiner von den Knechten. Sonst würde er sich doch nicht um Julian kümmern. Er wird mir nichts tun«, flüsterte Benedicta entschlossen und wollte sich gerade aus ihrem Versteck hinauswagen, als sie wieder diesen stechenden Schmerz am Handgelenk spürte.
»Du wirst nirgendwo hingehen!«, fauchte Agnes und verstärkte ihren eisernen Griff um Benedictas Handgelenk. Dann starrte sie ebenfalls gebannt auf die Lichtung.
»Oh, mein Gott, er kommt her! Schau nur! Er wird uns aufspüren und umbringen.«
Benedicta und ihre Freundin rückten noch enger zusammen, damit der unheimliche Mann nur ja keinen Zipfel ihrer Kleidung erspähte. Wie zwei ängstliche Kinder hielten sie einander fest umklammert und wagten nicht zu atmen. Auch Benedicta verging jetzt der Mut, sich dem Fremden zu stellen.
Mit jedem Schritt, den dieser sich näherte, wuchs Benedictas lähmende Furcht. Dieses Mal wollte sich gar keine Ruhe in ihrem Innern ausbreiten. Im Gegenteil, Todesangst durchfuhr sie, und sie fühlte, wie sehr sie am Leben hing. Ich muss doch wissen, wie es dort draußen in der Welt wirklich ist, bevor ich sterbe, dachte sie verzweifelt.
Der Mann mit dem Kapuzenmantel war mittlerweile so dicht an die Eiche herangetreten, dass Benedicta glaubte, den Hauch seines stinkenden Atems zu spüren, doch in dem Augenblick, als nur noch ein einziger Schritt gefehlt hätte, um sie zu entdecken, erhob sich ein klägliches Stöhnen von der Lichtung her.
Julian!, dachte Benedicta und erwartete mit angehaltenem Atem den nächsten Seufzer. Doch es blieb ruhig. Auf der Lichtung und unter der alten Eiche war es totenstill, bis sich die Schritte eilig entfernten.
Kaum hatte der Fremde ihnen den Rücken zugekehrt, traute sich Benedicta, hinter der Eiche hervorzulugen. Mit bangem Blick folgte sie seinen Bewegungen.
Wieder hockte sich der Mann im schwarzen Mantel zu Julian auf den Waldboden und schien mit ihm zu sprechen.
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