Die leere Wiege: Roman (German Edition)
einen zusammengefalteten Schein zu. Deine Trinkgelder waren immer höher als dein Lohn, und du sagtest, es käme dir jedes Mal vor, als würde dir ein Kind Süßigkeiten schenken.
Dann sahst du mich am Eingang sitzen. Ich hatte eine Hand auf dem Griff des Kinderwagens und bewegte ihn sacht vor und zurück.
»Rose«, sagtest du, als du bei mir warst, »mit dir hatte ich heute nicht gerechnet.« Dein Tonfall war förmlich, dienstlich.
»Wir wollten dich überraschen. Das hier ist Luke.«
Du warfst einen kurzen Blick auf den Kinderwagen, und ich fragte mich, ob du ihn erkanntest und wusstest, dass er Joel gehörte.
»Fährst du das Kind deiner Freundin spazieren?«
»Ja, von Emma.«
Der Name drang nicht bis zu dir durch, denn du behieltest die Gäste im Auge, wolltest sehen, wer bedient werden wollte und ob du vielleicht irgendwo ein Trinkgeld abstauben könntest. Doch du wurdest nicht gebraucht und ließest dich neben mir nieder. Ein Sonnenstrahl fiel auf das goldene Namensschild an deiner Weste und ließ es aufblitzen.
»Soll ich dir mehr über Emma erzählen?«
Du warst noch immer abgelenkt, zupftest an deiner Weste und strichst sie glatt.
»Aber eigentlich kennst du sie ja schon.« Ich wartete auf deine Reaktion, doch es passierte nichts. Also musste ich noch deutlicher werden. Ich ließ den Kinderwagen los. »Sie ist nämlich deine Emma.«
»Meine Emma?«
Ich glaube, in dem Moment nahmst du mich erst richtig wahr. Ich nickte wie ein Esel und hatte plötzlich Angst, dass ich zu weit gegangen war und ihr Name deine Wunden wieder aufreißen könnte. Nervös umfasste ich den Griff des Kinderwagens und ließ ihn wippen.
»Anfangs wusste ich es gar nicht, Jason«, plapperte ich drauflos. »Bitte, glaub mir das. Erst als sie anfing, über ihren ersten Ehemann zu sprechen, habe ich eins und eins zusammengezählt. Und eines Tages habe ich das hier bei ihr gefunden.«
Ich holte das Foto aus meiner Handtasche und hielt es dir hin.
Du schnapptest dir die Aufnahme und stiertest auf das entzückende Brautpaar.
»Emma weiß von nichts. Ich habe ihr nie etwas gesagt.«
Wortlos sahst du erst mich an und dann wieder das Foto.
»Und das da ist Luke. Ihr Sohn.«
Dein Blick wanderte über den Kinderwagen, die blaue Wolldecke und schließlich zu Luke. Du stutztest, beugtest dich vor und studiertest sein Gesicht. Die Kinnlade fiel dir herab, und deine Hand schloss sich um das Foto. Ich wollte dich bitten, es nicht zu knicken, aber das wagte ich nicht.
»Ein hübsches Kind, nicht wahr?« Ich streifte Luke die Mütze ab und enthüllte seine rotgoldenen Locken.
Du strichst ihm über die Wange und berührtest sein Haar, mit einem Ausdruck, der verwundert und schmerzerfüllt zugleich war.
»Emma erwartet uns erst in einigen Stunden zurück. Sie hat mir ihre Mitgliedskarte für den feinen Tennisklub in der Stadt geliehen. Wir könnten dort ein Glas trinken und Luke etwas zum Spielen geben.«
Deine Kinnlade versteifte sich, dein Blick haftete auf dem Jungen. Es dauerte eine Weile, ehe du dich von seinem Anblick lösen konntest. »Nein«, sagtest du kalt. »Dazu habe ich hier zu viel zu tun. Bitte bring ihn nie wieder her, das Auberge ist kein Ort für Kinder.«
Abrupt standest du auf und kehrtest zurück zu deiner Arbeit. Erst als ich auf der Straße stand, merkte ich, dass ich vergessen hatte, das Foto wieder an mich zu nehmen.
47.
An den nächsten beiden Abenden hattest du angeblich bis spätnachts zu tun, kamst erst in den Morgenstunden nach Hause und schliefst bis zur Mittagszeit. Wenn wir miteinander redeten, glichen wir Menschen, die sich auf der Straße begegnen und höfliche Floskeln austauschen. Ich stellte mir deine Gespräche mit Emma vor, sah im Geist, wie sich eure Körper vereinten, und wurde halb verrückt vor Eifersucht. Ich fragte mich, ob du ihr gesagt hattest, du wüsstest jetzt, dass Luke dein Sohn ist. Aber vielleicht wusstest du das ja schon vorher, von Anfang an. Es gab so viele Fragen, auf die ich die Antworten nie erfahren würde, sodass ich zu guter Letzt wünschte, mein Herz würde zu Stein.
Drei Tage nach meinem Besuch im Auberge startete ich den nächsten Versuch. Wieder war ich mit Luke allein. Um ihre Kenntnisse als Ballettlehrerin aufzufrischen, nahm Emma an einem Kurs teil und würde erst gegen fünf Uhr nachmittags zurückkommen. Ich begriff nicht, warum sie wieder arbeiten wollte, da sie doch nun ein kleines Kind hatte, um das sie sich kümmern musste, und es keineswegs so war,
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