Die leere Wiege: Roman (German Edition)
jede Rechnung doppelt beglichen, und das führt bloß dazu, dass du dir wieder etwas borgen musst, bis deine Schulden irgendwann so hoch sind, dass man dir mit einer Socke voller Batterien eins überzieht. Andere Frauen haben Rasierklingen, und wenn sie sich nicht gerade die Arme ritzen, bekommst du die Klingen womöglich zu spüren, erst recht wenn du eine der Hübscheren bist. Auch kochendes Wasser kann dich versengen oder dich für den Rest deines Lebens entstellen.
Sieh zu, dass du schnell lernst, denn den Letzten beißen hier die Hunde. Wenn eine Frau Aids hat und dich mit einer Spritze bedroht, solltest du dich besser nicht mit ihr anlegen. Genau genommen legst du dich mit niemandem an, es sei denn, du willst, dass man dir die Wange aufschlitzt. Such dir eine Insassin, die für dich sorgt. Eine wie ich, die sich auskennt. Die Wärter sind kein Schutz, erst recht nicht in der Nacht, wenn es am schlimmsten zugeht. Wenn du neu bist, wird man dir befehlen, Lieder zu singen, und dich am nächsten Tag bestrafen, solltest du dich geweigert haben. Der Wärter, der Nachtdienst hat, schläft meistens oder sieht fern. Er hat den besten Job. Nur diejenigen, die sich umbringen wollen, muss er überwachen, ansonsten wird er fürs Träumen bezahlt und erst geweckt, wenn um acht Uhr morgens die Frühschicht beginnt.
Ich trete ans Fenster und schiebe das dünne Rechteck aus bruchsicherem Glas hoch. Es ist klein, aber die eindringende Luft ist frisch und warm. Ich atme sie tief ein. Von hier aus kann ich den Block gegenüber sehen, wo wie ich Frauen hinter vergitterten Fenstern stehen. Einige haben ihre Laken zusammengedreht und verknotet, sodass ein Seil entsteht, das sie benutzen, um versteckte Nachrichten oder sonstiges Zeug mit Schwung zu einem anderen Fenster zu bugsieren. Eine Frau schwingt gerade ein kleines Bündel. Wahrscheinlich sind darin Zigaretten oder Schokolade. Aus Freundschaft oder Furcht ist sie bereit, sich von ihrem Vorrat zu trennen.
Meine Nachbarinnen kann ich nicht sehen, aber ich weiß, wer in jeder Zelle wohnt. Ich höre, wie sie flüsternd Tratschgeschichten austauschen. Manchmal höre ich ihnen zu, heute jedoch nicht.
»Janie?«, zische ich.
Sie meldet sich sofort. »Hier, Rose.« Wie eine Schülerin beim Appell.
»Und, warst du dort?«
»Ja. Aber ich habe nicht viel entdeckt.«
Janie geht mir oft auf die Nerven, denn sie kriecht den Wärtern in den Hintern. Trotzdem war ich froh, als sie hierherverlegt wurde. Ich habe sie gern um mich, wir kommen miteinander klar, und ich kann sie um Gefallen bitten. Wir sind befreundet, jedenfalls soweit das in einem Gefängnis möglich ist. Janie gehört zu den Pechvögeln, die nie ins Gefängnis gekommen wären, hätten sie sich nicht mit den falschen Leuten eingelassen. Aber dann wieder muss man sich fragen, wer sich sonst mit ihr abgegeben hätte. Janie ist klein und unauffällig und somit für eine Reihe von Verbrechen ziemlich gut geeignet. Beispielsweise, um Schmiere zu stehen oder selbst irgendwo einzubrechen.
Aber Janie ist schwach, und das ist das Problem. Unter Druck gibt sie sofort nach und wird zur Verräterin. Sie hat damals alle ihre Bandenmitglieder verpfiffen, um selbst ein milderes Urteil zu bekommen. Deshalb gilt für sie die Regel, und sie ist hier bei uns gelandet, bei den Lebensmüden, den Spitzeln, den Verängstigten und Berüchtigten. Wir alle brauchen Schutz, entweder vor anderen oder vor uns selbst. Flügel D ist der Ort, an dem wir untergebracht sind. Die Gefangenen, die in der Küche arbeiten, spucken in unser Essen. Wir werden verachtet.
Janie genießt hier eine gewisse Machtstellung, denn sie gehört zu den Aufpasserinnen. Diesen begehrten Posten haben die Wärter ihr gegeben, als sie erkannt haben, wie gehorsam sie ist. Sie putzt in der Verwaltung, unter anderem das Büro des Psychologen und das des Gefängnisdirektors, und staubt die Aktenschränke ab, in denen sich wertvolle Informationen befinden. Janie ist eine gute Putzfrau. Sie würde die Klos mit der Zahnbürste schrubben, wenn sie den Auftrag dazu bekäme. Allerdings birgt ihre Unterwürfigkeit auch eine Gefahr, denn das, was sie zu einer guten Aufpasserin macht, macht sie auch zu einer Informantin. Heute hat sie das Büro der neuen Bewährungshelferin geputzt.
»Was hast du entdeckt?«
»Sie hat ein winziges Büro. Nur ein Schreibtisch und ein Stuhl.«
»Hast du in die Schubladen geschaut?«
»Klar. Da liegt eine angebrochene Packung Kekse, von denen ich mir ein
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