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Die leere Wiege: Roman (German Edition)

Die leere Wiege: Roman (German Edition)

Titel: Die leere Wiege: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Dugdall
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sein Schnabel tatsächlich orange. Prall gefüllt war der Schnabel, diesmal nicht mit winzigen Zweigen, sondern mit Würmern und Maden, sodass ich dachte, wahrscheinlich werden gerade die Küken ausgebrütet. Der Vogel war flink und schoss immer hin und her.
    »Mein Küken«, sagte meine Mutter und streichelte meinen Arm. »Meine Rosie.«
    Ich dachte an Peter unten im Laden, das dumme, schwerfällige Küken, das Mum nur besuchte, wenn mein Vater es dazu zwang. Nicht wie ich, die ihr nicht fernbleiben konnte, sodass mein Vater mir schon vorhielt, ich würde sie stören.
    Ich dachte auch an meinen Vater, der unten im Laden arbeitete und wie die Amseln nach Essen suchte, wenn meine Mutter in ihrem Nest war.
    »Ich wünschte …«, begann meine Mutter, und ich hielt den Atem an. Meine Mutter wünschte sich nie etwas, deshalb war das, was jetzt kommen würde, sehr wichtig. »Ich wünschte, ich könnte in dieses Nest da schauen«, fuhr sie zu meiner Überraschung fort. »Ich würde auf den Baum klettern, den Elaeagnus. Nein, ich würde wie ein Vogel zu ihm hochfliegen und in das Nest spähen, um nachzusehen, wie viele Küken darin sind, wie viele niedliche Babys mit zarten Knochen mit aufgesperrten Schnäbeln auf Nahrung warten.«
    Sie sprach nicht mit mir, sondern wie für sich ins Leere. Oder mit den Vögeln draußen, die sie beneidete. »Ich wünschte, ich könnte sie groß und kräftig machen, damit sie eines Tages fliegen können. Wegfliegen können.«
    Dann fing sie an zu weinen, wie immer. Ich wusste nicht, wie ich sie trösten sollte. Wie ich ihren offenen Mund schließen sollte, als sie nach etwas rief, das ich ihr nicht bieten konnte, denn ich wusste nicht, was sie brauchte, um wieder zu Kräften zu kommen. Ich hatte keinen Vergleich, um zu wissen, was ihr fehlte.
    Wenn ich aus der Schule nach Hause kam, war ich müde und hungrig. Trotzdem musste ich im Laden sitzen, bis er geschlossen wurde. Meistens legte ich den Kopf auf der Theke auf meine verschränkten Arme und blinzelte, um den Schlaf zu vertreiben. Die Stammkunden kannten mich und witzelten, ich sei die jüngste Ladengehilfin in ganz Lowestoft. Mein Lieblingsplatz in dem ganzen Laden war der Holzschemel unter einem Brett, auf dem Gläser voller Süßigkeiten standen: rosa Pfefferminzstangen, gelbe kandierte Ananasstücke, die den Gaumen aufrauten, glänzende braune Colafläschchen aus Weingummi, an denen man ewig lutschen konnte, Zitronendrops in der Farbe der Haare meiner Mutter und – meine Favoriten – klebrige Karamellbonbons mit Zuckerglasur, die an den Fingern haften blieb.
    Das Regalbrett war zu hoch für mich. Selbst wenn ich mich auf den Schemel stellte, kam ich nicht heran, sodass ich die Verlockungen ständig unerreichbar vor Augen hatte. Peter dagegen war groß genug.
    Jedes Mal, wenn er sich ein Karamellbonbon nahm, ärgerte er mich. »Für dich gibt’s nichts. Du bist schon dick genug.«
    »Bitte, Peter.«
    »Nichts da.«
    Er kaute das Bonbon laut schmatzend, den Mund so weit geöffnet, dass ich die klebrige Masse sehen konnte, bis ich ihm am liebsten eine heruntergehauen hätte. Doch dann würde er zu Dad laufen, und ich würde zusammengestaucht, weil Peter »anders« war, sprich zurückgeblieben. In der Schule besuchte er eine Sonderklasse, und die Bücher, die er nach Hause brachte, hatte ich schon in der Vorschule gelesen.
    Es gab nur eins, was Peter und ich gemeinsam hatten, und das war unsere Vorliebe für Penny-Süßigkeiten. Die nannten wir so, weil Dad uns jeden Samstag jeweils eine Zehn-Pence-Münze gab. Von dem Geld kauften wir jeder eine Tüte mit zehn Süßigkeiten für je einen Penny. Während der Woche verbrachte ich unzählige Stunden mit der Überlegung, wofür ich mein Geld ausgeben könnte.
    Peter futterte seine Tüte stets auf einen Schlag leer. Ich dagegen hob meine Schätze in einem leeren Eiscremebehälter auf. In der Woche gestattete ich mir dann täglich eine Köstlichkeit, ein Bonbon oder eine Lakritze, doch das meiste hortete ich. Nach einer Weile hatte ich einen recht großen Geheimvorrat angelegt. Jede Woche stahl Peter ganze Hände voll aus meinem Behälter. Zu guter Letzt beschloss ich, die Süßigkeiten gegen Gefälligkeiten einzutauschen, dafür, dass er mir die Dinge reichte, an die ich noch nicht gelangte, oder mir seinen Kassettenrekorder lieh.
    Mein gehortetes Naschwerk bereitete mir so große Freude, dass ich den Behälter gern vor mir auskippte, nur um alles auf einmal zu betrachten. Auch meine

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