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Die leere Wiege: Roman (German Edition)

Die leere Wiege: Roman (German Edition)

Titel: Die leere Wiege: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Dugdall
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Lippenstift an der Wange.
     
    Nach diesen Auseinandersetzungen sah meine Mutter anders aus als sonst, wütend und traurig. Ihr Rücken krümmte sich, als trüge sie eine schwere Last, und ihre Mundwinkel hingen herab. Sie lachte auch nicht mehr wie an jenen Tagen, an denen es ihr gut ging. Für mich waren ihre Stimmungen wie eine Achterbahnfahrt. Sie konnte warmherzig und liebevoll sein und aufregende Dinge mit uns machen. Doch wenn sie einen »Anfall« hatte, sah sie mich an, als wäre ich eine Fremde.
    Wenn meine Mutter krank war, mussten Peter und ich im Laden bleiben und durften niemandem im Weg herumstehen. Mitunter versuchten wir einen Blick in die Comichefte zu werfen, doch dann sagte mein Vater, wir dürften nichts anfassen, und wir begannen uns zu langweilen. Nach einer Weile ging Peter dazu über, mich zu knuffen, oder er wurde richtig eklig, nahm mir mein Buch weg, hänselte mich und sagte für jedermann hörbar, ich sei zu dick. Ab und zu ging er mit seinen Freunden an den Strand, worüber ich immer sehr froh war.
    Ich wollte nicht im Laden sein, sondern bei meiner Mutter. Manchmal schlüpfte ich in ihr Zimmer und kroch zu ihr ins Bett, kuschelte mich unter die Decke und spielte, wir hätten uns ein Häuschen gebaut.
    Die Amseln waren zurückgekehrt und bauten ihre Nester. Im Regen.
    Ich konnte sie vom Bett meiner Mutter aus sehen. Sie flogen hoch hinauf in den grau verhangenen Himmel und stürzten hinab zu einem Baum. Mit ihren schwarzen Flügeln schlugen sie die grünen Zweige und gelben Blüten zur Seite und verschwanden im Geäst. Ein Vogel tauchte ein, ein anderer wieder auf. So ging das immerzu. Nasses Gefieder. Tropfende Blätter. Ein Schnabel umklammerte ein braunes Hölzchen. Der unnatürlich verdrehte Kopf, der das Hölzchen an die richtige Stelle des Nests steckte. Das schwarz glänzende Auge. Eine einzelne schwarze Feder, die der Wind aufplusterte. Ich beobachtete sie und fröstelte.
    Das Fenster klapperte, aber unter meinem Daunendach war ich sicher.
    Ich schmiegte mich an meine Mutter, und sie gab mir einen Kuss aufs Haar. Ihr Bett war mein Nest. Die Vögel suchten ein Zuhause, einen Platz für ihre Eier, um Küken auszubrüten.
    »Sieh doch nur«, sagte meine Mutter leise. »Wie sie immer weitermachen. Sie glauben an ihr kleines Nest, trotz des strömenden Regens. Wo haben sie nur gelernt, so eisern durchzuhalten?« Sie drückte den Kopf tiefer in das Daunenkissen und schloss die Augen, denn das Sprechen strengte sie an.
    Sie sind eben anders als du, dachte ich und schämte mich dafür. Aber meine Mutter hielt nie durch, sondern war immer nur müde.
    Ich versuchte, an etwas anderes zu denken, und küsste ihre Hand, die kalt war und zart wie eine Feder.
    »O Rosie«, sagte sie mit geschlossenen Augen. »Schon wenn ich ihnen zusehe, werde ich müde. Dieses Herumflattern, bis das Nest gebaut ist, und dann das lange Warten …«
    Das lange Warten kannte ich auch. Still zu sitzen und zu warten, bis es ihr wieder besser ging, bis sie aufstand, bis ich in Sicherheit war und wieder atmen konnte, weil sie wieder meine Mutter war.
    Der Regen hörte nicht auf.
     
    Elaeagnus. »E-lae-ag-nus«, sagte sie am nächsten Tag und sprach es für mich extra langsam aus. Es war der Name des großen Baums vor ihrem Fenster. Die kleinen zartgelben Blüten rochen nach dem Regen noch stärker als sonst nach Zitrone. Das wusste ich, denn vor Unterrichtsbeginn war ich hingelaufen. Ich wünschte, meine Mutter würde ihr Fenster öffnen, denn der Regen hatte aufgehört, und der Himmel sah wie ausgewrungen aus. Aber sie ließ ihr Fenster geschlossen. Wollte es nicht öffnen. Sie war in ihrem Nest, in dem sie tagelang blieb. Einen langen Tag nach dem anderen.
    Nach der Schule schauten wir aus dem Fenster. Ich in meinem blauen Baumwollkittel, sie in ihrem weißen Nachthemd. Meine Mutter beobachtete die Amseln. Ich beobachtete meine Mutter und suchte nach Hinweisen, die mir sagten, ob sie bald aufstehen, wieder gesund sein würde. Ein Vogel flatterte zwischen Nest und Geäst hin und her, nur ein einziger.
    »Das ist das Männchen. Du erkennst es an dem orangefarbenen Schnabel«, flüsterte meine Mutter, als hätte sie Angst, der Vogel könnte uns hören, und wir würden ihn stören. »Er ist auch größer.«
    Wie konnte ein einzelner Vogel größer sein? Größer als wer oder was? An wem wollte man ihn messen? Woher weiß man, was groß, was richtig oder falsch ist, wenn man nichts zum Vergleichen hat? Allerdings war

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