Die leere Wiege: Roman (German Edition)
Mutter hatte bunte Bonbons. Sie steckten in kleinen Glasflaschen, deren Kappe sich nicht aufdrehen ließ, ganz gleich, wie oft ich es versuchte. Die Fläschchen standen auf ihrem Nachttisch, und meine Mutter naschte davon, wenn sie krank war. Mitunter bot ich ihr meine Süßigkeiten an, aber die mochte sie nicht.
Dann kamen die Sommerferien, und mein elfter Geburtstag rückte näher. Die Tage im Laden schienen sich endlos zu dehnen. Mit reiner Willenskraft versuchte ich meine Mutter gesund zu machen, damit wir etwas unternehmen konnten. Sie war nun schon seit Ewigkeiten krank und verließ das Schlafzimmer nur noch selten. Wenigstens hatten wir die Amseln, die wir beobachten konnten, und wenn der Laden abends schloss, durfte ich zu meiner Mutter gehen. Zusammen sahen wir zu, wie sich der gelbe Sonnenball rot färbte, verblasste und verging. Dann kam der Mond, wunderschön und rund, der uns beschien. Das Nachthemd meiner Mutter war bald wie weißer Sand, ihre Haut nahm die Farbe von Perlmutt an. Die Luft war schwer und warm und roch nach Salz. Hier oben bei ihr war ich sicher. Unten war Peter, heckte Dummheiten aus oder stopfte sich mit Süßigkeiten voll. Mein Vater war noch im Laden, füllte Regale auf und schrieb Bestellungen. Hinterher machte er unser Abendessen, bei laut aufgedrehtem Fernseher. Im Zimmer meiner Mutter dagegen war es friedlich.
Dad besuchte meine Mutter nicht mehr. Er schlief auf dem Sofa im Wohnzimmer. Ich sagte mir, das sei normal, immerhin war Mum krank, und mein Vater machte die ganze Arbeit. Nur all die hübschen lachenden Kundinnen bereiteten mir Sorgen, und ich fragte mich, ob mein Dad fortfliegen würde, wenn er könnte, und mich und Peter im Nest zurücklassen würde.
Ich hielt ihn für einen guten Mann, obwohl ich mir dessen nicht sicher sein konnte. Ich hatte ja keinen Vergleich.
10.
Eintrag in mein schwarzes Buch
Der Laden meines Vaters war so klein, dass er schon bei drei Kunden überfüllt wirkte. Wenn ich aus der Schule kam, ging es dort oft sehr lebhaft zu, und die Glocke über der Tür bimmelte pausenlos, als würde einem eine Katze mit einem Glöckchen am Halsband um die Beine streichen und um Milch betteln. Es gab auch ruhigere Zeiten, aber nach der Schule tummelten sich dort Kinder in blau-weißen Kitteln oder in grauen Hosen und marineblauen Blazern, die ihre Silbermünzen gegen Brause und rote Lakritzstangen eintauschten. Die Frauen dagegen drückten auf die Brote, rochen am Käse oder kosteten eine Weintraube. Dad lächelte sie an und strich sich mit der Hand durch sein blauschwarzes Haar, das vom Wachs glänzte.
Dad mochte vor allem Mrs Carron. Wenn sie da war, strich er sich noch öfter durchs Haar. Sie kam ständig, denn immerzu gingen ihr irgendwelche Lebensmittel aus. Wenn meine Mutter abends fragte, wer tagsüber im Laden gewesen sei, wusste ich, dass es besser war, Mrs Carron nicht zu erwähnen. Jedenfalls seit jenem Tag, an dem Dad ihr gesagt hatte, an ihrer Bluse oben sei ein Knopf aufgegangen, woraufhin Mrs Carron nachgeschaut und festgestellt hatte, dass der Knopf fehlte. Ihre Bluse klaffte auf, und man erkannte sogar ihren roten Büstenhalter. Ich fand das komisch. Dad und Mrs Carron lachten auch. Aber als ich es später meiner Mutter erzählte, runzelte sie die Stirn und begann den Rand ihres Lakens zu kneten.
Ich sagte: »Wer trägt denn einen roten Büstenhalter?«, und fand es noch immer lustig, denn bis dahin hatte ich nur weiße oder hautfarbene gesehen.
Mum lächelte nicht. Sie wollte wissen, wo Dad gewesen sei, ehe Mrs Carron den fehlenden Knopf bemerkt hatte. Die Frage konnte ich leicht beantworten, denn er war hinten im Lager gewesen, um nachzusehen, ob dort noch etwas von dem Earl Grey vorrätig war, den Mrs Carron für den besten hielt. Ich war in der Zeit im Laden, um auf die Kasse aufzupassen. Mum fragte, wo Mrs Carron gewesen sei, und ich erwiderte, sie sei auch ins Lager gegangen, um sicherzugehen, dass Dad die richtige Marke fand. Als sie wieder im Laden war, wirkte sie sehr vergnügt, daher nahm ich an, mein Dad und sie hatten das Gewünschte gefunden.
Meine Mutter brach in Tränen aus. Seitdem erwähnte ich Mrs Carron nie wieder. Allerdings machte ich es zu meiner Aufgabe, die Kundin und Dad zu beobachten, und hoffte, ich könnte meiner Mutter sagen, alles sei in Ordnung, sie könne sich wieder gut fühlen und ihr Nest verlassen.
Jeden Morgen vor der Schule und jeden Nachmittag suchte ich das Amselnest auf, damit ich
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