Die leere Wiege: Roman (German Edition)
dabei überrascht hatte, wie ich Mrs Carron durch das Loch in der Wand beobachtete, hatte er nicht mehr mit mir gesprochen.
Als ich nach unten kam, legte mir mein Dad kurz eine Hand auf die Schulter und murmelte etwas davon, dass ich jetzt eine junge Frau sei und Tante Rita sich um mich kümmern werde. Er wusste nie, was er zu mir sagen sollte, erst recht nicht seit Mums Tod. Doch das, was an jenem Morgen vorgefallen war, hatte ihn in seiner Meinung bestätigt, dass ich bei Tante Rita besser aufgehoben sei.
Zu Rita fuhren wir mit dem Zug und mussten einmal umsteigen. Sie lebte allein in Felixstowe. Nur Bill, ihr Wellensittich, hatte ihr vor meinem Einzug Gesellschaft geleistet. Das Haus war heruntergekommen und lag am Ende einer Siedlungsstraße, nicht weit vom Meer entfernt. Nachts drangen die Musik, das Stimmengewirr und das Gelächter von den Buden herauf. Rita behandelte mich nicht wie ein Kind. Sie fragte nie, wohin ich gehen wolle oder wann ich wieder zurück sei. Wenn andere Kinder in meinem Alter längst im Bett lagen, schickte sie mich noch los, um ihr Fritten oder Zigaretten zu besorgen. Vom Kochen hielt sie nicht viel. An den meisten Abenden sagte sie: »Sei ein Schatz und hol uns unten an der Ecke einen Happen, ja?«
An den Buden am Hafen gab es all das zu kaufen, was ich ohnehin am liebsten aß: Würstchen, Pasteten, Fritten, gebratenen Fisch und Kebabs. Die Männer, die dort bedienten, kannten mich mit der Zeit. Sie schauten auf meine dünne Bluse und gaben noch eine Portion dazu.
Den Großteil des Tages verbrachte Rita in einem durchgesessenen Sessel, indem sie über das schlechte Fernsehprogramm schimpfte oder in einer Klatschzeitschrift blätterte. Sie aß und rauchte in dem Sessel, der ihren schweren Körper umgab. Ich setzte mich auf den zweiten Sessel, zog die Beine an und hatte Fett von den Fritten und Druckerschwärze an den Fingern, denn unsere »Happen« wurden meist in Zeitungspapier eingeschlagen. Ich leckte alles ab. Anders als mein Dad fand Rita nichts dabei, vor dem Fernseher zu essen. Stumm verfolgten wir diverse Seifenopern. Sonst war nur das Rascheln des fettigen Zeitungspapiers zu hören, und dann und wann bekam Rita einen ihrer Hustenanfälle.
Rita hatte sich beim Putzen der Wohnungen anderer Leute den Rücken kaputt gemacht und bezog eine Berufsunfähigkeitsrente. Sie verließ das Haus nur noch selten. Aber jeden Samstag erschien eine Frau namens Annie, und die beiden machten sich zu irgendwelchen seltsamen Sitzungen auf. Dann trug Rita ihr einziges gutes Kleid, an das ich mich noch von der Beerdigung meiner Mutter erinnerte, und ihr Gesicht glühte vor Aufregung.
Mitunter kehrte sie von den Ausflügen ein wenig niedergeschlagen zurück, schleppte sich die Treppe hoch und ging sofort zu Bett. Am nächsten Morgen war sie wieder die Alte. Ich mochte die Samstage, denn es waren die einzigen Abende, an denen ich allein sein konnte. Über die seltsamen Sitzungen dachte ich nicht groß nach. Ich wusste nur, dass sie im Gemeindehaus der Kirche stattfanden. Wenn überhaupt, stellte ich mir darunter so was wie eine Sonntagsschule oder einen Flohmarkt vor, also nichts, was für mich von Interesse war.
»Es geht um eine Séance«, klärte Rita mich eines Tages auf. »Wir erhalten Botschaften von Menschen aus dem Jenseits.«
Eines Samstags hörte ich Rita auf der Straße husten und wunderte mich, denn normalerweise kam sie erst eine Stunde später nach Hause. Sie öffnete die Haustür und keuchte, als stünde sie kurz vor einem Hustenanfall. Ihre Augen waren feucht, ihr Gesicht war gerötet.
»Ich habe … eine Nachricht für dich«, schnaufte sie.
Sie brachte die Worte kaum heraus, und ich half ihr in ihren Sessel. Rita drückte eine Hand auf ihre Brust und versuchte normal zu sprechen.
»Sie beobachtet uns, Rose. In diesem Augenblick. Sie ist zufrieden.«
Ein Kälteschauer lief mir über den Rücken, denn in unserem Leben gab es nur eine »Sie«.
»Sie sagt, du seist ein bildhübscher Teenager geworden, und sie hätte sich gewünscht, dass ich für dich sorge. Ich soll dir sagen, dass sie dich liebt.«
Ich biss mir so fest auf die Lippe, dass ich Blut schmeckte.
»Ach, wein doch nicht, Schätzchen. Sie ist jetzt an einem Ort, an dem sie glücklicher ist als hier. Für manche Leute ist das Leben eben schwer, und für deine Mutter war es eine Last. Jetzt tut ihr nichts mehr weh.«
Rita zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und reichte es mir. Eine Zeit lang schwieg sie, doch
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