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Die leere Wiege: Roman (German Edition)

Die leere Wiege: Roman (German Edition)

Titel: Die leere Wiege: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Dugdall
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Miss Reed hat einen Wasserkocher und Kaffee in ihrem Schreibtisch. Wir trinken dann immer eine Tasse zusammen. Manchmal bringt sie Schokokekse mit.«
    Wie typisch, dass Janie zur Lieblingsschülerin geworden ist.
    »Wie schwierig wäre es denn, einen kleinen Umweg zu machen? In die Stadt, meine ich. Der Bus fährt doch vor der Schule ab, oder?«
    »Kein Problem«, prahlt sie. »Letzte Woche bin ich vom Bahnhof aus zu McDonald’s gegangen und habe mir von dem Geld für die Fahrkarte einen McChicken gekauft. Der hat vielleicht gut geschmeckt. So was Leckeres habe ich schon seit Monaten nicht mehr gegessen. Hinterher musste ich zur Schule laufen und wäre fast eine Stunde zu spät gekommen, aber Miss Reed hat nichts gesagt. Sie hat mich nicht mal im Gefängnis verpetzt.«
    Janie wirkt so kindlich, dass sie kaum beaufsichtigt wird, und ist so dumm, dass sie nicht für voll genommen wird. Ein Umstand, den ich mir zunutze machen kann.
     
    Ich wende mich wieder dem Brief ihres Vaters zu und lese ihn ihr weiter vor.
    Wie immer findet er Ausreden, weshalb er sie nicht besuchen kann, und behauptet, das Geld dazu fehle ihm und der Weg sei viel zu weit. Im nächsten Satz erzählt er jedoch, er habe in Spanien Urlaub gemacht. Manchmal überspringe ich die Stellen, die Janie verletzen könnten, denn ich möchte sie beschützen. Dann wieder erfinde ich ein paar Dinge. »Ich hoffe, dass du brav bist«, improvisiere ich, »und nie vergisst, dass ich dich lieb habe.« Es ist nicht viel, aber Janie stimmt es froh. Eine Lüge, die andere glücklich macht, kann meiner Meinung nach nichts Schlechtes sein.
    Anschließend falte ich den Brief wieder zusammen, stecke ihn in den billigen Umschlag und gebe ihn Janie zurück. Sie drückt ihn an ihre mädchenhafte Brust. Ich halte ihr den Joint hin und sage, sie solle fest daran ziehen. Das tut sie. Doch dann muss sie husten und stößt die Tüte fort. Ich bette ihren Kopf in meinem Schoß und spiele mit ihrem mausbraunen Haar.
    »Jetzt ist alles gut«, murmle ich. In solchen Momenten mag ich sie am liebsten. Sie zieht die Knie an den Bauch und schließt die Augen. Ich nehme einen langen Zug und spüre, wie die Droge meine Glieder schwer werden lässt. »Dein Daddy hat dich lieb, Janie. Bald kommt er dich besuchen.«
    »Nein, tut er nicht«, entgegnet sie und verblüfft mich mit ihrer Einsicht. »Aber das ist mir egal.« Mit feuchten Augen schaut sie zu mir hoch. »Noch nie hat sich jemand so wie du um mich gekümmert. Ich war noch nie so glücklich.«
    »Obwohl wir im Gefängnis sind?«
    Sie rutscht hoch und legt den Kopf wieder an meine Schulter. Ihr Atem wärmt meinen Hals. »Ich bin lieber bei dir als allein da draußen.«
    Ich lasse zu, dass sie wie ein Hündchen an meinem Hals knabbert. Mit ihren dünnen Armen umschlingt sie meine Taille. Wie traurig das Leben eines Menschen sein muss, wenn ihm so etwas lieber ist als die Freiheit. Ich drücke ihr einen Kuss aufs Haar und rieche das billige Gefängnisshampoo. Janie würde alles für mich tun. So eine Hingabe ist tatsächlich ein Geschenk.
    Was ist nur aus mir geworden? Eine Frau, die andere manipuliert. Ich bereite mich auf den Termin bei der Bewährungskommission vor, benehme mich gut und bin berechnend, wenn ich Antworten gebe. Das Mädchen, das ich einmal war, erkenne ich nicht wieder. Mein Gott, wie naiv ich früher war.
    Wenn ich mich im Spiegel betrachte, sehe ich das Ebenbild einer alten Frau. Obwohl ich noch recht jung bin, fühle ich mich wie eine Greisin. Die Jahre im Gefängnis haben mich vorzeitig altern lassen und zynisch gemacht. Hässliche Orte lassen die Menschen hässliche Dinge tun. Das Gleiche gilt für hässliche Erfahrungen. Aber bedeutet das im Umkehrschluss, dass schöne Orte Gutes im Menschen bewirken? Denk an den Strand von Felixstowe, an die weißen Holzhäuser und den endlos blauen Himmel. Die warme Luft, die uns über die Gesichter strich. Damals waren wir glücklich, oder?
    Gefängnisse sind die hässlichsten Orte der Welt. Sie bestehen nur aus Stahl und grauem Beton. Ständig dieses Knallen und Klicken, das Gebrüll, die Schreie, die zuschlagenden Türen, die Schlösser und Schlüssel. Und immer ist es kalt. Es sind schreckliche Orte voller Frauen, die Schreckliches getan haben, und dann sind da noch all jene, die hier freiwillig arbeiten und wie wir eingeschlossen sind, obwohl sie die Schlüssel haben.
    Ich frage mich, weshalb Cate Austin hier gefangen sein möchte. Natürlich würde sie es mir nie sagen,

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