Die leere Wiege: Roman (German Edition)
denn ihr Job besteht darin, mich zum Reden zu bringen. Sie ist die Zuhörerin. Eine Richterin.
Sie knöpft ihre Jacke bis zum Hals zu, denn das gibt ihr Halt. Obwohl sie außerhalb der Gefängnismauern lebt, bringt sie nie einen Hauch Sommer mit herein, so wie es die anderen tun. Und obwohl sie über ihre Kleidung frei entscheiden kann, trägt sie immerzu das Gleiche, eine Uniform aus blauer Jacke, weißer Bluse und grauer Hose. Das unterscheidet sie von den anderen Zivilen, den Lehrern und Psychologen. Auch ihre Frisur passt dazu: ein geradliniger Bob, den sie sich an den Seiten hinter die Ohren steckt. Ihr Haar hat die Farbe von Herbstlaub und könnte durchaus hübsch aussehen.
Ich muss unbedingt mehr über Cate erfahren, nur so kann ich beeinflussen, was sie über mich schreiben wird. In der Regel lässt sie sich nicht in die Karten blicken, aber manchmal fällt ihr eine aus der Hand. Wie an dem Tag, als ihre Tochter den Unfall hatte und sie in blinder Panik zur Tür stürzte und alles vergaß, auch den Teil, den sie vor anderen verstecken möchte. Ihre Verletzlichkeit. Wir sind beide vorsichtig, verbergen viel und geben nur wenig preis. Sie muss ihren Job machen und ihren Ruf wahren. Sie muss mich aus der Reserve locken und den Moment abpassen, in dem sie zuschlagen kann. Ich dagegen muss zusehen, dass ich die Freiheit wiedergewinne. Für mich ist der Einsatz höher. Ich spiele um mein Leben.
Ihr Job ist es, mich zurückzuführen in eine Zeit, in der ich etliche Jahre jünger war, mein Gesicht noch meinem Alter entsprach und ich auf die Zukunft hoffte.
20.
Eintrag in mein schwarzes Buch
Endlich war ich normal geworden. Ich teilte meine Wohnung mit einem Mann. Ich hatte einen Liebhaber. In dem Becher im Bad kreuzten sich unsere Zahnbürsten. Meine Wohnung war zwar nicht viel besser als dein Zimmer im Grand, aber sie war größer, und ich hielt sie ordentlich und sauber. Sie lag im oberen Stockwerk eines Hauses aus den Siebzigerjahren und bestand aus einem Wohnzimmer, das zur Straße ging, Küche, Bad, einer Kammer und einem rückwärtig gelegenen Schlafzimmer. In der Kammer hob ich Ritas Sachen auf, zu denen sich deine Gitarre und deine leere Reisetasche gesellten. In der winzigen Küche befanden sich feine Lebensmittel aus dem Hotel, denn der Küchenchef war ein großzügiger Mann. Dank ihm hatte ich sogar Vanilleschoten, Zimtstangen, Safran und sogar eine Flasche Madeira da. An der Wohnung war eigentlich nichts auszusetzen, bis auf die Nachbarn unter uns, die sich mitunter um zwei Uhr morgens stritten und sich anschließend noch lauter versöhnten.
Du hattest noch immer keinen neuen Job, aber wir kamen zurecht. Der Küchenchef kannte dich ja noch aus der Zeit, als du in der Bar gearbeitet hattest, und manchmal erkundigte er sich nach dir und steckte mir für uns zwei Steaks zu oder ein übrig gebliebenes Stück Lachs. Dann und wann ließ ich zur Krönung eine Zigarre mitgehen, denn du hattest in teuren Hotels gearbeitet und hattest einen teuren Geschmack.
Tagsüber war dir langweilig, denn du hattest ja nichts zu tun. Wenn ich zu meiner Schicht aufbrach, fühlte ich mich schuldig, weil ich dich auf dem Sofa vor dem Fernseher zurückließ, mit der Gitarre auf dem Schoß. Besorgt fragte ich mich, wie du die Tage ohne mich verbrachtest, denn ich wusste, dass Emmas Foto noch in deinem Portemonnaie steckte und du dein Handy immer in Reichweite hattest. Wenn sich summend eine SMS ankündigte, schautest du auf den Text, sagtest aber nie, wer dir die Nachricht geschickt hatte, und ich fragte nicht nach.
Drei Wochen nach deinem Einzug bekam ich Besuch. Es war an einem Samstag um sieben Uhr abends. Du sahst dir gerade eine Autosendung im Fernsehen an, ich spülte in der Küche Geschirr. Als es an der Tür klingelte, dachte ich mir schon, dass es Annie war, denn wer sollte es sonst sein.
Ich trocknete mir die Hände ab und rannte die Treppe hinunter. Lächelnd öffnete ich die Tür, denn ich wollte, dass Annie die Männerschuhe im Eingang sah und eine Männerstimme hörte, die nach mir rief. Sie empfing mich mit finsterer Miene. Trotz ihres rundlichen Körpers und ihrer knapp siebzig Jahre konnte sie furchteinflößend sein.
»Rose! Was zum Teufel fällt dir ein?«
Mein Lächeln erlosch. Bisher hatte ich Annie noch nie wütend erlebt.
»Was stehst du noch hier rum? Wir müssen los.«
Ich wollte protestieren, doch Annie zerrte meine Jacke vom Haken der Garderobe.
»Jetzt mach schon, sonst kommen wir
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