Die Legende der Alten: Teil 1: Erwachen (German Edition)
jeder nur noch vom anderen stiehlt, hat bald keiner mehr etwas zu essen, selbst wir nicht. Vielmehr ist es unsere Aufgabe, für sichere Straßen zu sorgen und die Diebe angemessen zu bestrafen. Denn sie bringen die ehrbaren Bürger um den Lohn ihrer Arbeit. Dass ein Dutzend Wachen unter der Führung eines Beseelten sie nicht aufhalten konnte, und sie damit einfach davonkommen, ist eine Schande“, entgegnete der König.
Die letzten Worte sagte er bewusst etwas lauter, so dass Kirai und alle Umstehenden sie hören konnten. Aus den Augenwinkeln beobachtete Nomo, wie Kirai einen roten Kopf bekam. Er stand auf, entschuldigte sich kurz bei Königin Isi und stiefelte von dannen. Innerlich frohlockte Nomo. Sie und ihr Vater setzten sich. Natürlich würde Nomo die Erklärungen ihres Vaters nicht so einfach hinnehmen, sie liebte diese Diskussionen mit ihm.
„Sie haben ja uns bestohlen und wir sind reich genug. Schau nur die gedeckte Tafel an. Wir, die Beseelten, können ruhig etwas abgeben. Ich habe auch selten einen Beseelten arbeiten sehen. Wenn ich alt genug bin, werde ich mir eine richtige Arbeit suchen, das heißt, wenn Mutter mich jemals lässt“, entgegnete Nomo.
„Wenn du so scharf darauf bist, zu arbeiten, werden wir eine Aufgabe für dich finden. Um auf die Diebe zurückzukommen, du machst die Welt nicht besser, indem du all deinen Reichtum an sie verschenkst. Almosen verändern nicht den Charakter eines Menschen, sie machen ihn höchstens träge. Der, den man immer füttert, lernt schließlich nie, selbst den Löffel zu halten. Viele der Beseelten – bei weitem aber nicht alle – sind ein gutes Beispiel dafür. Es sind oft die, die sich um einen Sitzplatz an dieser Tafel prügeln. Ihren Reichtum verdanken sie ihren Eltern, jetzt leben sie damit einfach in den Tag hinein. Und aus Langeweile spinnen sie Intrigen. Sie sind gefährlicher als deine Diebe, weil man sie noch schwerer erwischt. Unser guter Wesir Hem kann davon ein Lied singen. Nicht wahr Hem?“, sagte der König.
Ein hagerer Mann, Ende Vierzig, der in der Nähe mit zwei anderen Beseelten tuschelte, schreckte auf. Er wandte sich zum König um und machte eine Verbeugung. Seine hellblauen Augen schienen jeden, den er anblickte, zu durchbohren. Nomo hatte ihn noch nie lächeln sehen.
„Was ist Euer Begehr, mein König?“, fragte er.
„Ich überlege gerade, ob ich nicht meine Tochter Nomo bei euch in die Lehre schicken sollte. Ein zwei Jahre im königlichen Geheimdienst würden ihr vielleicht zu einer etwas realistischeren Sicht dieser Welt verhelfen“, antwortete der König und lachte dabei.
„Im Geheimdienst? Das ist nicht dein Ernst Vater“, warf Nomo ein.
„Ich fürchte, Eure Tochter würde eher meine Agenten allesamt in heilige Priester verwandeln. Dabei müsste sie ihren Charme und ihre geistigen Talente nur in die richtigen Bahnen lenken… Sie hat ganz sicher Potential für meine Abteilung“, entgegnete Hem.
Nomo schaute ihren Vater entgeistert an. Er drehte sein Weinglas in der Hand und schob die Unterlippe etwas vor. Er erwog diese Möglichkeit tatsächlich, so schien es. Nomo mochte sich weder mit den unzähligen Intrigen im Königreich beschäftigen, noch in menschlichen Abgründen herum stochern. Der königliche Geheimdienst war so ziemlich das Letzte wonach ihr der Sinn stand. Was sie stattdessen machen wollte, wusste sie allerdings auch nicht. Zu ihrem Glück setzte die Musik ein und wie bei jedem Ball, standen sofort mehrere der jungen Männer neben ihrem Platz und baten um einen Tanz. Somit war die Entscheidung über ihre Ausbildung erst einmal vertagt. Sie würde in nächster Zeit über eine Alternative nachdenken.
***
Bartar verlagerte sein Gewicht vom rechten auf das linke Bein. Sie standen jetzt schon gut eine Stunde hier im Schatten hinter einem Gebüsch. Durch die großen Fenster konnten sie den ganzen Ballsaal überblicken, gedämpft drang die Musik nach draußen. Die Beseelten bewegten sich in seltsamen Mustern zur Musik, ganz anders als es Bartar von den Festen auf dem Markt oder aus den Tavernen kannte. Dabei berührten sich die Tanzenden höchstens mit den Fingerspitzen, die meiste Zeit liefen sie lediglich nebeneinander her oder verbeugten sich voreinander. Bartar fragte sich, wie jemand Spaß daran haben konnte. Für ihn bedeutete Tanzen, eine Frau in den Arm zu nehmen und möglichst nah an sich heranzuziehen. Er liebte es, ihren Busen zu spüren und seine Hände auf ihren Hintern zu legen. Der einzige
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