Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
erstaunt an und erstarrte dann wieder.
»Keine Sorge, sie ist eine Verbrecherin«, sagte Tryst. Warum redete er mit diesem Ding? Das kam ihm nicht richtig vor. Ob dieses Geschöpf Gefühle hatte? Es gaffte ihn noch immer nervtötend an.
Er warf sie aufs Bett. »Hiergeblieben«, brummte er und ging in die kalte Nacht hinaus.
Wolken verdunkelten die Sterne, doch das bedeutete, dass es nicht so frostig werden würde wie neulich. Von der Straße aus sah er noch einmal zu Tuyas Balkonfenster hoch. Das Laternenlicht drang nach draußen, und er staunte erneut darüber, welche Macht die Alten besessen hatten, bevor sie aus der Geschichte verschwunden waren.
KAPITEL 35
Er wusste, dass es gute und schlechte Tage gab. So war das Leben eines Beamten der Inquisition. Diese Laufbahn konnte nicht jeder einschlagen, da man auf den Straßen Villjamurs manch brutale Dinge zu sehen bekam.
Am frühen Morgen eines Priestertags vor hundertvierzig Jahren waren drei nackte, grässlich zugerichtete Kinder tot auf der guten Seite der Stadt gefunden worden. Ihre inneren Organe waren auf dem Pflaster verstreut gewesen, und frisches Blut hatte im Sonnenlicht gefunkelt. Diesen Fall hatte Jeryd als ersten allein lösen müssen, und nach dem Willen des Rats durfte keiner der vermögenden Anrainer von dem Verbrechen etwas erfahren. So ist das in dieser Stadt – man muss immer dafür sorgen, dass die Reichen zufrieden sind. Schließlich konnte er einen Jorsalir-Priester als Täter ermitteln, musste aber auch darüber schweigen, da die Inquisition auch die Priester zufriedenzustellen hatte. Jeryd hatte sich den Mistkerl damals vergeknöpft und ihn einer gerechten Strafe zugeführt, doch darüber war in keiner Taverne je geredet worden.
Angesichts der vielen Schrecken, die er gesehen hatte, erwartete er, leichter mit den alltäglichen Zumutungen des Lebens klarzukommen. Er hatte sogar die Giftzwerge in der Straße ertragen und sich und sein Haus mit Schneebällen bewerfen lassen.
Doch Jeryd war ein gebrochener Mann.
Tryst hatte vorgeschlagen, nach der Arbeit noch kurz etwas trinken zu gehen, und Jeryd hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt. Etwas Geselligkeit würde ihm sicher nicht schaden.
Der Schnee war gefroren, ehe er hatte geräumt werden können, und Jeryd musste sich an den Fenstersimsen der Reihenhäuser festhalten, um nicht auszurutschen. Er merkte, dass Tryst ihn Richtung Cartanu Gata führte, wo Ratsherr Ghuda ermordet worden war.
Endlich kamen sie an, zwei Beamte der Inquisition, die sich ein Getränk gönnten. Sie betraten eine Teebar, die nach Villjamurs ursprünglichem Namen Villhallan benannt war; der Einrichtung nach zu schließen, mochte es das Lokal auch schon seit Gründung der Stadt geben.
»Nichts davon ist echt«, gestand Tryst. »Die Möbel, die Theke, die farbigen Lampen – alles genaue Nachbildungen.«
Er hatte recht. Es war ein langweilig wirkender Ort.
»Eigentlich ist das nicht so mein Fall«, sagte Jeryd, als sie sich in einer Nische an einen kleinen Tisch setzten.
Auch sonst machte das Lokal nichts her. Kleine Kerzen standen auf den Tischen, beschienen die Gesichter der Gäste und ließen alle finster wirken, als wären sie ganz und gar nicht zum Vergnügen gekommen. Im Nachbarzimmer gab es einen Stammestrommler, und jemand spielte ein Jeryd unbekanntes Instrument. Der Ermittler glaubte, auf einer abgelegenen Insel des Kaiserreichs gelandet zu sein.
»Kommst du oft hierher?«, fragte er lachend.
Tryst lächelte nur und wandte sich an die Kellnerin, die eine rätselhafte schwarze Kluft mit allzu prächtigen Stickereien an Kragen und Manschetten trug. Jeryd hatte nie mit der Mode Schritt halten können – so wenig wie mit Villjamur. Manchmal dachte er, die Welt sei inzwischen zu etwas geworden, das er nie mehr verstehen würde.
»Was möchtet Ihr trinken, meine Herren?«, fragte sie.
»Für mich nur einen schwarzen Tee«, erwiderte Tryst. »Und falls es Gebäck gibt, würde ich gern einen Blick darauf werfen.«
»Natürlich«, sagte sie lächelnd. »Und Ihr, Sir?«
»Tee mit Milch, danke! Und kein Gebäck – ich muss auf mein Gewicht achten.«
»Ihr wart in letzter Zeit recht oft im Ratssaal … «, begann Tryst mit offenkundiger Neugier.
Jeryd war schon viermal dort gewesen, um eine Reihe von Ratsmitgliedern zu befragen, aber auf eine Mauer geprallt. Niemand erzählte ihm etwas. Nach der anfänglichen Spur, wonach die Morde etwas mit den Flüchtlingen zu tun zu haben schienen, gab es nun keine
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