Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
besuchen, mein Kaiser, falls Ihr mit unseren Angelegenheiten fertig seid?«, fragte Brynd.
»Ja, ja. Warum nicht?« Er entließ Brynd mit einem Wink und trat wieder ans Fenster. Diesmal öffnete er es, ließ die eisige Luft hinein, trat mit geballten Fäusten beiseite, rannte plötzlich an seinem Besuch vorbei aus dem Zimmer und ließ die drei Männer und seine Tochter mit dem Nachhall der hinter sich zugeknallten Tür zurück.
»Hallo, Kommandeur«, sagte Eir zu Brynd.
Zwischen ihr und den Nachtgardisten hatte stets eine gewisse Ungezwungenheit bestanden, die auf langjähriger gegenseitiger Vertrautheit beruhte. »Lady Eir, ich fürchte, Euer Vater hat getrunken.«
»Und Ihr glaubt, das sei meine Schuld?« Der Ärger in ihrer Miene verwandelte sich in Enttäuschung. Er wusste, dass sie ihr Möglichstes tat, um ihren Vater vom übermäßigen Trinken abzuhalten; dass sie ihm halb leere Flaschen wegnahm, wenn er eingeschlafen war; dass sie ihn stets mit ihren großen grünen Augen vorwurfsvoll ansah, wenn er sein Glas erneut füllte. Nun musterte sie nur die Wand, als wäre dort Trost zu finden, doch es gab zu viele Spiegel, als dass sie daran nicht rasch das Interesse verloren hätte.
»Ich wollte nicht schroff sein, doch Euer Vater muss Inseln und Städte regieren. In Villjamur wurden auch ohne trinkenden Regenten genug Fehlentscheidungen getroffen.«
»Ich weiß«, erwiderte Eir. Sie klang zuversichtlich, doch ihr Auftreten zeigte, dass sie sich dazu zwingen und sich etwas beweisen musste. »Wie dem auch sei – was ist Euch und Euren Männern widerfahren?«
»Wir sind in einen Hinterhalt geraten; es hat ein Massaker gegeben. Wir sind die einzigen Überlebenden des … der Mission, auf die wir zuletzt gesandt wurden.«
»Der Feuerkorn-Expedition? Mit wem habt Ihr gekämpft?«
Brynd konnte es nicht fassen. »Sogar Ihr habt davon gewusst? Ist denn in diesen Sälen gar nichts heilig?«
»Tut mir leid«, antwortete Eir. »Fyir, werdet Ihr wieder gesund werden?« Sie legte ihm freundlich die Hand auf – eine Geste, um die andere Männer ihn beneiden mochten.
»Es genügt wohl zu sagen«, erwiderte der Verletzte und krümmte sich im Stuhl, »dass meine Tage als Soldat vorüber sind, Jamur Eir.«
»Mädchengewäsch«, stieß Apium hervor, wandte sich dann an Eir und murmelte: »Nichts für ungut.«
»Keine Sorge.«
»Der ist in null Komma nichts wieder munter«, fuhr Apium fort. »Wir schnallen ihm ein hübsches Stück Holz ans Bein, und dann geht’s wieder zum Trainieren aufs Pferd –«
Brynd hieß Apium mit einer Handbewegung schweigen.
Draußen war ein Tumult zu hören.
Er rannte ans Fenster. Mist!
Unten im Nieselregen entwickelte sich ein Skandal.
Kaiser Jamur Johynn zog sich in die äußerste Ecke des tiefer gelegenen Balkons zurück, als wäre er in die Enge getrieben. Wahrscheinlich bekundete sich darin, wie es in seinem Kopf längst aussah.
Mehrere Wächter schoben sich vorsichtig näher und wussten nicht recht, wie sie sich verhalten sollten. Ein Schritt voran mochte Johynn als Bedrohung erscheinen. Ein Schritt zurück konnte bedeuten, dass sie zu spät kamen.
Brynd stürzte aus dem Zimmer, um dem Kaiser und den Wächtern zu Hilfe zu eilen.
»Zurück«, schrie er und bahnte sich einen Weg durch die wachsende Menge. Von der steinernen Plattform aus konnte man die halbe Stadt überblicken, die Türme und Brücken, die mächtigen dunklen Hügel in der Ferne, selbst das Meer in der Gegenrichtung. Nur eine kniehohe Granitmauer trennte den Balkon vom schwindelerregenden Abgrund. Diener und Beamte waren gekommen, um dem Drama zuzusehen, und sogar ein paar Räte waren neugierig hinzugeeilt. Der Kaiser stand noch immer wie zuvor da, sah nun aber zum Himmel auf, als erlebte er einen zutiefst religiösen Augenblick. Und vielleicht tat er das ja – in solchen Momenten wusste man nie, was wirklich vorging. Brynd war klar, dass er den Kaiser davon abhalten musste, etwas Dummes zu tun, und ihn sicher in den Palast zurückzubringen hatte. Angesichts der aufziehenden Eiszeit war Johynn als Repräsentationsfigur nahezu unabdingbar. Die Menschen bedurften seiner Führung und Unterstützung, denn in Zeiten der Krise braucht man jemanden, der einem versichert, alles werde wieder gut, auch wenn dem nicht so ist.
Sie benötigten jemanden, der sie klar und deutlich belog.
»Mein Kaiser, was macht Ihr?«, rief Brynd, und eisiger Schneeregen wehte ihm ins Gesicht.
»Es ist einfacher so«, erwiderte Johynn.
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