Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
hatten sie ihr Lager zwischen alten Ruinen aufgeschlagen, deren geisterhafte Gegenwart ihn beunruhigte.
Am dritten Morgen stießen sie auf alte Pfade, die plötzlich im Unterholz verschwanden. Auch kamen sie durch zwei kleine, aufgegebene Orte und passierten verlassene Holzfällerlager und ausgestorbene Tagebaue. Rika und Eir waren sehr daran interessiert, die verschiedenen Gebiete des Reichs besser kennenzulernen, und fragten sich, warum diese Siedlungen alle aufgegeben worden sein mochten.
Randur erklärte ihnen, was das Reich hier draußen bedeutete.
»Als die Kaiserliche Armee vor Jahrhunderten Anspruch auf diese Insel erhob, erklärte sie, das Reich bringe der Gegend Ordnung und Infrastruktur. Die hiesigen Stämme wurden fortgejagt, es sei denn, sie wurden als zivilisiert eingestuft. Doch um diesen Status zu erlangen, mussten sie – grob gesagt – bereit sein, ihre Sitten und Gebräuche aufzugeben und die von Villjamur annehmen. Einige Stämme wurden sogar versklavt.«
»Manche Gefangene sollen Greueltaten an Soldaten verübt haben, die sie lediglich zur Arbeit aufforderten … «, sagte Rika skeptisch.
»Habt Ihr die Quelle Eurer Informationen je kritisch betrachtet, Mylady? Hier haben sich einheimische Stämme gegen die Zerstörung ihrer Gemeinschaft durch fremde Soldaten gewehrt. Die Vertreter des Kaiserreichs behaupteten natürlich, die neue Herrschaft bringe großen Reichtum für alle, doch diesen Reichtum haben die Handelsstädte aufgesogen, allen voran Villjamur und Villiren. Und selbst dort haben fast nur die wenigen profitiert, die die Schmiedeöfen besaßen (zumal die, in denen Waffen hergestellt wurden). Die haben in der Tat schweres Geld verdient, und weitere Kriege bedeuteten stets gute Geschäfte. Also haben sie auf permanentes Kriegführen gesetzt. Laut authentischen Geschichtsbüchern – also gemäß Darstellungen, die nicht von kaiserlich besoldeten Gelehrten umgeschrieben wurden – hat man die Bewohner Folkes stark unterdrückt und jahrelang hungern lassen, um ihren Willen zu brechen. Lokale Aufstände haben noch mehr Soldaten ins Land gebracht, und vor einigen Jahrzehnten, als die Bevölkerung sich ganz unterworfen hatte, veränderten sich die eben noch boomenden Märkte – oder der Rat ließ sie zusammenbrechen. Plötzlich waren andere Metalle gefragt, und die alten Bergwerkssiedlungen waren am Ende. Einfach so. Und viele Leute waren gezwungen, die Insel zu verlassen. Darum werdet Ihr hier überall auf Geisterstädte stoßen, und vielleicht ist das auf anderen Inseln genauso. Ich weiß es nicht.«
Munio blieb vollkommen still, denn er kannte diese gekürzte Geschichte schon.
»Und die Leute hier … zürnen sie dem Kaiserreich?«, wollte Rika wissen.
»Vermutlich sind sie inzwischen vor allem verbittert. Aber was können sie machen? Sie haben keine Verfügungsmacht über ihr Dasein. Doch mich ärgert vor allem, dass niemand in Villjamur auch nur ahnte, was hier geschah. Die bekamen vom Rat immer die gleichen Schlagworte über die Randbezirke des Reichs zu hören und dachten nicht daran, Fragen zu stellen. Was man in der Hauptstadt erfuhr, war entweder übertrieben, oder es stimmte nicht. Sie nahmen an, wer protestiere oder sich der Unterdrückung erwehre, unterstütze schlicht Böses. Und wer sich dem Willen des Kaiserreichs widersetzte, wurde als Terrorist gebrandmarkt.«
»Wenn Ihr das Reich so sehr hasst, warum helft Ihr mir dann?«, fragte Rika.
»Weil Eir Euch helfen will, und wenn das ihr Wunsch ist: bitte.« Er sah seine Liebste an, doch die wusste nicht, was sie sagen sollte. Er hatte schon viel für sie geopfert. Es war gefährlich, so zu denken – das wusste er – , doch seine Liebe war alles, was er gegenwärtig besaß. »Außerdem habt Ihr in der Geschichte noch kaum eine Rolle gespielt, dafür aber erfahren, wie betrügerisch die Mitglieder des Rats sein können.«
»Ich glaube, ich kann die Dinge verändern«, sagte Rika. »Sobald ich wieder in Villjamur und an der Macht bin.«
»Meiner Meinung nach wäre es das Beste«, erwiderte Randur, »wenn Ihr diese Macht dezentralisiert. Gebt den Leuten das Land zurück, das ihnen einst gehörte.«
Rika sah nachdenklich drein, und sie ritten schweigend weiter.
Sie zogen über kaum mehr zu erkennende, farnüberwucherte Pfade und an steilen Hängen entlang, aus denen Steine wie schwarze Knochen ragten. Der Schnee wehte in Böen durch den winterlichen Wald.
Am fünften Nachmittag beschlossen sie kurz vor der Dämmerung,
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