Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
inzwischen fast durchgehend verband, und entlang der Küste von Tineag’l, mitunter gefolgt von Pterodetten mit lässigem Flügelschlag. Die Vogelsoldaten erstaunten Brynd immer aufs Neue: So groß und elegant sie waren, so überwirklich waren sie. Wenn sie niedrig flogen, konnte man ihre stumpfe Rüstung und ihre Federn deutlicher sehen und sogar die kräftigen Muskeln unter ihren gewaltigen Schwingen erkennen. Zwei- bis dreimal am Tag sah Brynd Brennas blitzen, explosive Relikte, die die Kultisten erfunden hatten, damit das Meer ringsum nicht zufror und kein Feind Villiren übers Eis erreichen konnte.
Und jetzt? Das Warten schien sich endlos hinzuziehen, während er immer tiefer in die Besonderheiten dieser seltsamen Stadt eindrang.
Mit Lupus im Schlepp stolzierte Brynd von der Zitadelle herab zu den Märkten zwischen Altstadt und Allmende, wo die Onyxflügel die Silhouette prägten. Dort waren noch Gebäude in älteren Stilen aus der Frühzeit der Stadt erhalten: ein Durcheinander aus Rundtürmen und Kuppeln. Die Gegend war von einem Meer an Flachbauten umgeben, das nur ab und an von einem großen Lagerhaus oder einer Windmühle unterbrochen wurde.
Am frühen Morgen schlugen Händler auf den Basaren hastig ihre Stände auf und spannten mit Lumpen versehene Schnüre, um ihre Flächen rot, blau oder grün zu markieren. Sonnensegel wurden gehisst und Schilder aufgerichtet, die mit esoterischen Symbolen bemalt oder in einem Durcheinander aus verschiedenen Stammessprachen Jamurs beschriftet waren. Auch die Bürger Villirens waren ja Mischlinge, denn ihre Vorfahren stammten von allen möglichen Inseln des Archipels. Doch einige hielten an den Sitten und Gebräuchen ihrer Insel fest: Leute aus Jokull legten Hemmungen und Unsicherheiten darüber an den Tag, so weit im Osten zu sein; wer aus Folke kam, trumpfte mit gespieltem Männlichkeitswahn auf oder verhielt sich betont gleichgültig. Und von überall waren Diebe gekommen, um Waren zu stehlen, indem sie scheinbar lässig ihren Geschäften nachgingen, sich dabei aber gewandt in die Taschen stopften, was immer sie konnten.
Nicht Villjamur, sondern Villiren war das eigentliche Handelszentrum des Reichs. Erze wurden im nahen Tineag’l gewonnen und in Villiren verhüttet. Kein Wunder, dass hier erhebliche Mengen an Metallwaren hergestellt und ins gesamte Reich verkauft wurden, zumal nach Villjamur, das weit genug entfernt lag, um nie wirklich zu überschauen, was in Villiren vorging. Herstellungsmethoden wurden geschützt, Produkte als Warenzeichen eingetragen. Es gab einzigartige Webmethoden und besondere Farbgebungen und Applikationen, die überall äußerst begehrt waren. Die reinste Labelkultur.
Ob die Menschen hier von alldem abgelenkt waren, konnte Brynd nicht sagen, doch sie schienen sich nicht weiter um das Eis und den drohenden Krieg zu sorgen. Die Leute beschäftigten sich eben lieber mit Kleinigkeiten als mit sich abzeichnenden Großereignissen.
Villiren war kein Gefängnis. Der Hauptunterschied zu Villjamur bestand gerade aus dem Fehlen von Stadtmauern, sodass man sich nicht eingeschlossen fühlte. Die Gebäude erstreckten sich immer weiter nach Süden und verloren sich allmählich in Feldern und Wäldern. Auch gab es kein Flüchtlingslager wie vor den Mauern Villjamurs. Dennoch vermutete Brynd, die nach Villiren Geflohenen seien irgendwo zusammengepfercht; vielleicht in den großen Wohnblocks und damit ein gutes Stück von den Resten der alten Stadt entfernt.
Ein paar Händler hatten Öfen eingeheizt, damit die Vorbeikommenden der Wärme wegen verweilten und nach einiger Zeit vielleicht versucht waren, ihnen etwas abzukaufen. Ringsum lag Schnee, auf den Dächern, auf umgedrehten Kisten, entlang der Hauswände. Menschen im Pelz und ein paar Maskenträger fahndeten an den Ständen nach dem frischesten Fisch, und stets wurde eine – angesichts der Gesamtlage – erstaunliche Menge Fleisch feilgeboten. Auch das vermochte Brynd nicht zu begreifen.
Eine kleine Gruppe stach ihm ins Auge.
Die drei Gestalten standen dicht beisammen an einer Ecke und untersuchten etwas auf dem Boden, während andere Stadtbewohner, die auf dem Weg zum Basar oder zum Alten Hafen waren, sich an ihnen vorbeidrängten.
Als die beiden Soldaten auf sie zuhielten, sah eine der drei Personen auf; eine groß gewachsene Frau, deren Miene altersbedingt in ewiger Überraschung erstarrt schien. Dennoch wirkte sie sympathisch. Sie trug einen Tweedmantel mit verschmutztem Saum und darunter
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