Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
Leute. Malum hat große Pläne für ihn und will ihm eine Zukunft schenken, auf die er stolz sein kann. Styl sagt, er wolle eines Tages Kaiser sein, und er sagt es so überzeugt, dass man es beinahe für möglich hält.
Hoffnung: Das ist einer der Gründe, warum Malum so hart in seiner kleinen Handelsfirma arbeitet. In dem von seinem Onkel ererbten Geschäft verteilt er Waren aller Art in der Stadt und versucht sich zudem mitunter im Erzhandel. In der Morgensonne, die durchs Küchenfenster fällt, bereitet seine Frau das Frühstück zu. Sie hat hellblondes Haar und volle Lippen. Er liebt diese Plaudertasche, die bei allem, was er sagt, hellhörig ist. Jetzt nimmt er ihr den Pfannenwender aus der Hand und schlägt ihr vor, sich in die Badewanne zu legen. Er küsst sie auf Schlüsselbein und Nacken, und sie lächelt den beiden zu und geht nach oben.
Später gehen sie zu dritt Richtung Ladenviertel, um für ein Abendessen mit seinem Geschäftspartner einzukaufen.
Kaiserliche Soldaten kommen von der Zitadelle; offenbar rücken sie aus, um Stammesunruhen jenseits der Stadtgrenzen zu bekämpfen, irgendwo im Hexenwald. Nichts Ernstes – da draußen sind nur einige Hundert Leute zu erwarten, die Vergeltung dafür üben wollen, dass das Kaiserreich das Land ihrer Vorfahren requiriert hat. Malum geht neben Styl in die Hocke und betrachtet die vielen uniformierten Reiter auf der regennassen Straße. Rüstungen und Waffen glitzern bei dieser Zurschaustellung von Pflicht und Mut im Sonnenlicht.
Jemand zündet zur Feier des Tages einen Böller …
… und mehrere Pferde scheuen. Einige gehen durch und galoppieren auf die Menge zu. Malum weiß noch, dass er seitwärts gestoßen wurde und Styl schrie, und hat noch immer vor Augen, wie das Gesicht seines Sohns von Hufen zertrampelt wird.
Eine sich ausbreitende Blutlache.
Eine weinende Frau.
Besorgte Gesichter, die er durch seine Tränen hindurch nur undeutlich wahrnimmt.
Nachdem sich der Aufruhr gelegt hat, kann er sich kaum überwinden, den entstellten Sohn anzuschauen, und bricht mit seiner Frau weinend auf dem Pflaster zusammen.
Am nächsten Abend findet er seine Frau verblutet in der Wanne. Die Schnitte an ihren Handgelenken sind so unbeholfen gesetzt, dass sie langsam und qualvoll gestorben sein muss.
Da hat es begonnen.
Malum warf einen Stein ans Fenster, und er prallte ab, ohne Schaden anzurichten. War es denn ein Wunder, dass er Soldaten verabscheute? Er würde nie auf ihrer Seite kämpfen, egal, welche Argumente dafür sprechen mochten, egal auch, wie sehr die Nachtgarde ihn darum bat.
Nie war er über den Tag hinweggekommen, an dem sein Leben in Trümmer gegangen und seine schönsten Hoffnungen gestorben waren. Und kaum hatte die Hexe ihm in seiner Verbitterung geholfen, hatte er sein junges Handelsgeschäft in ein verbrecherisches Unternehmen verwandelt, um seine Wut zu kanalisieren.
Sein Kader war immer weiter gewachsen. Die jungen Männer waren zu seiner Familie, schließlich zu seinen Blutsbrüdern geworden. Fraglos standen sie zu ihm und würden seinetwegen jeden Feind aufschlitzen.
Wer den Sohn so zu Tode kommen sieht und miterleben muss, wie die Frau sich aus Verzweiflung umbringt, dem kommt es wohl nur noch darauf an, der Welt möglichst viel Befriedigung abzuringen.
In der Stadt begann ein neuer Tag.
Händler zogen ihre Karren zu den Basaren. Bürger gingen ihren täglichen Aufgaben teils maskiert nach, liefen eifrig herum und verfolgten ihre Geschäfte. Bitter sah Malum eine Dragonereinheit am anderen Ende der Straße marschieren. Er blickte ein letztes Mal zum Haus hoch, verschwand in den Nebel und wünschte, für immer darin verloren zu gehen.
KAPITEL 41
N ur wenige Menschen besitzen das Privileg oder sind dazu verdammt, einen eigenen Moment im Dasein zu haben – ein Zeitfenster, in dem sie der Mittelpunkt der Welt sind und sich alles um sie dreht. An diesem Abend fieberte eine ganze Stadt jedem Wort von Brynd entgegen, und egal, was er sagte: Es würde unvorstellbar viele Tote geben.
Die Schweigebomben hatten die Stadt verändert – ihre Geografie wie ihren Geist. Nun sammelten sich Tausende um Kasernen und Zitadelle und forderten Taten und Schutz. Bürgermeister Lutto war verschwunden. Villiren lag in Brynds Hand.
Die Nachtgarde in seinem Rücken aufgereiht wandte er sich seit einem halben Tag in regelmäßigen Abständen von einem für seinen Geschmack viel zu majestätischen Balkon der Zitadelle an die Bürger Villirens. Die Menge
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