Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
drängte sich unten oder zwischen den massigen Gewölben und Pfeilern. Brynd war heiser, weil er seine Botschaft schon so oft in den kalten Wind gerufen hatte:
»Es besteht kein Grund zur Panik«, log er.
»Aber was sollen wir tun?«, kam es aus der Menge. »Sagt uns, was wir tun sollen!«
Da sie sich dem Willen des Bürgermeisters jahrelang unterworfen hatten, war diesen Leuten jegliche Selbstständigkeit abhandengekommen. Wer nicht kämpfen wollte, den wies Brynd an, sich in die Fluchttunnel zu begeben. »Wir evakuieren die Stadtbevölkerung in Zeltdörfer hinter dem Hexenwald, auf der anderen Seite der Abraumhalde und in der Vanr Tundra oder sorgen für Zuflucht in stillgelegten Stollen. Wir haben Proviantlager für diese Übergangslösung angelegt. Das rings um Villiren zehntausendfach stationierte Militär marschiert jetzt Einheit für Einheit in die Stadt. Es handelt sich um den Großteil der Streitkräfte des Kaiserreichs. Wir werden die Stadt gegen die anstürmenden Feinde halten.«
Obwohl Hunderttausende in Villiren lebten, kam die Bürgerwehr nur auf knapp die gleiche Mannschaftsstärke wie das Militär: Vierzigtausend wollten ihre Stadt verteidigen, sodass insgesamt etwa achtzigtausend Kämpfer zusammenkamen. In den letzten Wochen hatte Brynd die Schmiede angewiesen, genügend Waffen für sie zu fertigen. Bürger, die sich erst jetzt zur Verteidigung der Stadt meldeten, wurden je nach Wohnsitz zu Regimentern zusammengefasst. Nachbarn wurden zu Waffengefährten, denen Offiziere eilig eine Grundausbildung verpassten. Leider waren kaum Gangs zur Verteidigung der Stadt bereit, jedenfalls keine von den brutaleren, von den Bloods und Screams, deren mehrere Tausend Mitglieder befähigte Bürgerwehrler abgegeben hätten.
Zehn Kultisten hatten sich freiwillig gemeldet, was Brynd erstaunte, da sie sich kaum je um anderes sorgten als um ihre obskuren Praktiken. Er hatte sie mit Blavat in einem Zimmer versammelt, damit sie ermittelten, was es mit den Schweigebomben auf sich hatte, und eine Technologie fanden, um den Feind auf Augenhöhe bekämpfen zu können. Rasch war er von Beami beeindruckt, die die Leitung der Gruppe übernommen hatte und ihn am nächsten Morgen über ihre Entdeckungen informieren würde. Allerdings hatte sie ihn bereits gewarnt, er verstünde womöglich die ungemeine Komplexität der zur Verfügung stehenden Techniken nicht. Verschnupft über die altbekannte Arroganz der Kultisten, kam er zu dem Schluss, dass er wohl nie begreifen würde, was sie im Schilde führten.
Am Abend lehnte Brynd an den eisigen Zinnen und kippte einen Wodka, der Wärme genauso wie der Entspannung wegen. Mit einem Auge beobachtete er dabei den Horizont … nur für den Fall der Fälle. Bei dem trostlosen Wetter war nicht viel zu sehen.
Was hatte der Feind nur im Sinn? Angenommen, diese Okun kamen von außerhalb des Boreal-Archipels: Warum mussten sie in Tineag’l einmarschieren und die Bevölkerung dort töten?
Eine entscheidende Information erreichte Brynd kurz nach dem Morgengrauen.
Garuda-Aufklärer hatten Meeresfahrzeuge unbekannter Art erspäht. Es waren keine Langschiffe, und sie schienen auch nicht aus Holz zu sein. Weder Segel noch Besatzungen waren zu sehen gewesen, einzig ein dumpfes Summen begleitete sie, als sie durch die schmale Fahrrinne Richtung Villiren glitten. Andere Garudas bestätigten, dass die Fahrzeuge langsam fuhren und mitten auf der Strecke sogar beidrehten, um später gestartete Boote aufschließen zu lassen. Sie traten massiert auf wie ein Schwarm Riesenhaie, erst nur zu zwanzig, dann zu fünfzig. Doch sie hatten die Stadt noch nicht erreicht, und das war die Hauptsache, denn es bedeutete, dass Brynd noch Zeit hatte.
Er befahl seiner Elitetruppe, sich binnen einer Stunde zu versammeln, und sandte Botschafter und Ausrufer in alle nördlichen Stadtviertel.
Glocken läuteten durch Villiren.
KAPITEL 42
R andur stand an Deck, blinzelte ins Licht und staunte, wie oft er in die Rote Sonne sah. Gedankenversunkenheit erwies sich als tröstlich, und hier oben hatte er das Gefühl, genug Zeit zu haben, die Dinge langsamer angehen und erwachsener werden zu können. Wie sein Leben eine so bizarre Kehre genommen hatte, wusste er nicht, und er gelobte sich, künftig ein ruhigeres Leben zu führen. Er brauchte nur einen Ort an der Küste, vielleicht eine anständige Taverne, in der er seine Jahre herumbringen konnte. Schluss mit dem ewigen Druck; vielleicht lagen die Leute in der Kneipe auf Folke
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