Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
mehr Drogenkonsum und eine größere Anzahl von Bordellen gesehen. Diebe stehlen ungeniert die Waren von den Marktständen. Leute bezahlen dafür, in Untergrundtheatern grausamen Spektakeln beizuwohnen. Und Lutto behauptet, die Bürger seien im Durchschnitt reicher und gesünder als früher.«
»Vermutlich ist seine Statistik frisiert«, warf Jeryd ein. »Nach meinen Beobachtungen besitzen einfache Leute sehr wenig, während Gangmitglieder und zwielichtige Händler ihren Reichtum weiter mit vollen Händen verprassen.«
»Die Banden kontrollieren das Leben der Stadt, Herr Ermittler«, sagte Brynd, »und der Bürgermeister belohnt sie noch dafür, indem er ihren Mitgliedern erlaubt, sich in ihren Freuden und Lastern zu suhlen und sie den Bürgern hier schmackhaft zu machen.«
»Kaum ein Verbrechen scheint gemeldet zu werden«, pflichtete Jeryd ihm bei.
Der Kommandeur lächelte, als hätte er seinen Gast erst zu dieser Erkenntnis geführt. »Und worauf deutet das hin?«
Jeryd überlegte. »Darauf, dass die meisten Einwohner Villirens Verbrecher sind oder die herrschende politische Kultur wenigstens dulden.«
»Dann überlegt noch mal, ob ich die Stadt retten kann.«
»Villiren«, folgerte Jeryd, »ist bereits gefallen.«
»Und doch dürfen wir nicht klein beigeben, und zwar aus Pflichtgefühl. Solltet Ihr Leute kennen, an denen Euer Herz hängt, bringt sie in die Tunnel und in Sicherheit. Ich nehme doch an, Ihr seid noch immer in der Lage zu kämpfen?«
Diese Worte trafen ihn wie ein Schlag in den Magen. Dass er womöglich würde kämpfen müssen, war ihm bislang nur undeutlich bewusst, und weil er so stark mit den Vermissten beschäftigt gewesen war, hatte er es nahezu vergessen.
»Ich bin zu allem bereit«, log Jeryd.
KAPITEL 40
M alums Leben war nicht immer so verkorkst gewesen, obwohl er es schon als Kind schwer hatte – der Vater hatte die Mutter so früh verlassen, dass er sich kaum an ihn erinnerte. Vielen jungen Männern bei den Bloods ging es ähnlich. Vielleicht bilden sich solche Gangs anfangs nur, weil junge Leute bei ihresgleichen Anleitung suchen. Darum hatte er sich früher auch so bemüht, ein guter Vater zu sein …
Seit Stunden ging er nun durch Villiren und wusste noch immer nicht, wie weit er gekommen war. Zu dieser Tageszeit – kurz vor Morgengrauen – waren die Gassen leer, und nun erst wurde ihm klar, dass er die ganze Nacht wach gewesen war. Vom Meer war dichter Nebel in die Stadt gezogen, und die Straßen und die wenigen hohen Gebäude verloren sich im Ungefähren.
Er vermisste Beami sehr – wer hätte das gedacht! Zum ersten Mal war er gedemütigt worden, und diese Erfahrung hatte ihn aufgeschlitzt wie eine Klinge. Er war es nicht gewohnt, seine Wunden zu lecken.
Mit dem bevorstehenden Krieg, der die Stadt vermutlich auslöschen würde, war wohl jede Aussicht verloren, Beami wiederzufinden. Er wollte ihr sagen, wie leid es ihm tat, und sie daran erinnern, dass er nicht immer so bösartig war – denn dass er es mitunter war, musste er sich eingestehen: ein Mann, der Böses fabrizierte. Aber er hatte es auch nicht leicht gehabt, bei seiner Kindheit und …
Da war die Straße ja endlich, in der er einst gelebt hatte. Nicht mit Beami, nein, sondern mit seiner ersten Liebe, als er noch sehr jung gewesen war, dem Mädchen, das er seither unausgesetzt zu vergessen suchte.
Seit einer Zeit, da er noch nicht einmal gebissen worden war.
Er brachte es nicht übers Herz, sich auf ihren Namen zu besinnen … es war ohnehin so lange her.
Und da war sein Haus, einst ganz am Rand von Brachland gelegen. Nun stand es in der Vorstadt, was Malum ein Symbol dafür schien, dass Villiren über sein Leben hinausgewachsen war. Es handelte sich nur um ein bröckelndes Reihenhäuschen, in dessen Mörtelritzen da und dort Murmeln gedrückt waren, damit es im richtigen Licht in verschiedenen Farben glitzerte. So waren hier alle Häuser. Die Tür war inzwischen in einer anderen Farbe gestrichen, und eine andere Familie wohnte dort.
Aber einst war er hier zu Hause gewesen.
Wer keine Zukunft hat, schaut in die andere Richtung , erkannte er. Die Gespenster der Vergangenheit traten ihm aus dem Nebel entgegen, und er nahm die Maske ab, um sich ihnen zu stellen.
Hier endet es.
Er ist noch ungebissen, einundzwanzig, Vater, und sein zweijähriger Sohn Styl lacht zu ihm auf. Der kleine Kerl hat Malums Haar- und Augenfarbe, Malums Lächeln. Er sei aus dem gleichen Holz geschnitzt wie der Vater, sagen die
Weitere Kostenlose Bücher