Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
in die Obsidianrote Kammer, um mit ihm eine mögliche Befreiung der im Lagerhaus Gefangenen zu besprechen. Lupus stand an der Wand gegenüber und studierte auf dem Stadtplan, welche Gebiete der Feind erobert hatte.
Der Tisch in der Mitte schien immer mehr ein Teil von Brynd zu werden, da der Kommandeur fast alle seine Geschäfte von dort aus erledigte. Mit Kriegshandwerk hatte das kaum mehr zu tun, fast ausschließlich mit Verwaltung.
Nachdem er Nelum mit den Einzelheiten vertraut gemacht hatte, stützte er sich auf die Ellbogen und sah seinen Leutnant an, der aufgeregter wirkte denn je und anscheinend gar nicht zugehört hatte. Brynd wunderte sich, weil dies absolut nicht seinem Wesen entsprach.
»Zu den Aufgaben der Nachtgarde gehört es, die Bürger des Kaiserreichs zu schützen«, sagte Brynd zusammenfassend. »Offenbar sind viele unschuldige Zivilisten gefangen und erwarten den Tod. Wir müssen einen Weg finden, sie mit möglichst geringen militärischen Verlusten zu befreien.«
»Einverstanden.« Nelum blickte finster auf den Tisch. »Ich bin sicher, eine Strategie entwickeln zu können.«
Das hatte Brynd selbst übernehmen wollen, sah aber Nelum zuliebe davon ab. »Das wäre prima. Und sofern absolute Geheimhaltung gewährleistet ist –«
»Denkt Ihr, das wüsste ich nicht?«, fuhr Nelum ihn an.
Undankbare Mistkröte . »Leutnant, Ihr habt Eurem Kommandeur etwas mehr Respekt zu erweisen.«
Es entstand eine Pause, da Nelum nach Worten suchte. »Ich finde es ja nur schwierig. Ich glaube, der Druck dieses Krieges setzt mir zu.«
»Er setzt Euch zu?« Brynd erhob sich so abrupt, dass sein Stuhl umkippte. »Glaubt Ihr denn, ich bin nicht unter Druck? Ich weiß genau, was Ihr meint, Leutnant. Aber Ihr steht unter meinem Kommando. Ist das klar ?«
Nelums Blick verriet, wie wütend er war.
»Sehr wohl, Sir.«
Brynd argwöhnte, dass er sich künftig wohl nicht mehr auf seinen Stellvertreter würde verlassen können, und merkte, dass Lupus sie beide großäugig und unsicher ansah. »Umgedreht bleiben, Soldat«, befahl er, und Lupus wandte sich wortlos wieder dem Stadtplan zu.
Der Kommandeur hob seinen Stuhl auf und setzte ihn leise an den Tisch. »Fragt sich nur, wie wir die Sache angehen. Ich schlage einen nächtlichen Einsatz vor, denn obwohl die Okun laut Zeugen auch im Dunkeln aktiv sein können, kämpfen sie offenbar lieber im Hellen – genau wie unsere Truppen. Wir Nachtgardisten dagegen sind alles andere als nachtblind und müssen bei dieser Aktion ein Gebiet weit im vom Feind besetzten Territorium erreichen, ohne gesehen zu werden.«
»Wir könnten Garudas einsetzen«, schlug Nelum schließlich vor, und Brynd gefiel diese Idee.
Stunden waren vergangen, und noch immer war der richtige Moment nicht gekommen – anscheinend würde Nelum den rechten Augenblick nie finden. Der Schlaf hatte ihn bisher geflohen, und sein Kopf war voller Sorgen und Beklemmungen. Er stand auf, zog sich an, nahm die Schachtel mit dem Botulinum-Messer, packte das seltsame Ding aus, studierte es und bewunderte die darin steckende Technologie.
Die zwei Männer, mit denen er das Zimmer teilte – Brug und Haal – , würden noch ein paar Stunden damit zu tun haben, seine Anordnungen zur Vorbereitung der Gefangenenbefreiung umzusetzen.
Brynd dürfte also die Gelegenheit nutzen, etwas Schlaf zu bekommen.
Wie hatte der Albino es wagen können, so mit ihm zu reden? Und das vor Lupus! Brynd brachte ihm einfach keinen Respekt entgegen und vermochte, seine Art zu denken, nicht wertzuschätzen. Nelum hatte alle Ablenkungen aussperren und diesen Militäreinsatz hochkonzentriert konzipieren wollen, und was hatte der Kommandeur getan? Ärgerliche Hilfe hatte er ihm angeboten! Als ob ein Nelum Hilfe bräuchte! Nein, wenn es denn sein soll, dann jetzt.
Er setzte eine schwarze Kapuze auf, um sein Gesicht zu verbergen, und verließ das Zimmer. Mit leisen Schritten und gezücktem Messer schlich er über die Steinplatten der Flure. Zu dieser Stunde war kaum noch jemand wach, und Nelum ungeduldiger denn je. Der Wunsch, nicht erwischt zu werden, schärfte seine Sinne, jedes Geräusch ließ ihn spähen, und jeder Lichtschimmer bedeutete eine Herausforderung.
Vier Türen weiter rechts lag Brynds Zimmer – der Kommandeur zog es vor, ein gutes Stück getrennt von seinen Männern zu schlafen. Wären sie nicht im Krieg, wären Wachen im Flur postiert, doch gegenwärtig mussten alle Soldaten für den Kampf ausgeschlafen sein.
Nelum atmete tief
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