Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
keiner könne besser mit der Axt umgehen als er. Ruhig und nachdenklich blickte er Jeryd sanft in die Augen, bedachte seine Fragen und antwortete vorsichtig im Flüsterton. Ganz anders Syn, ein Mittdreißiger, der seinem irren Blick zufolge durchaus ein Psychopath hätte sein können, normalerweise aber ruhig war und nur im Gefecht – wie der Kommandeur verriet – ungemein gewalttätig wurde und viele Gegner niedermachte. Tatsächlich nahmen sich alle insgeheim vor ihm in Acht, da er fünfzehn Jahre zuvor bei einem Massaker an kaiserfreundlichen Männern seines Stammes beteiligt gewesen sein mochte. Daher schien auch niemand mit ihm befreundet zu sein, und Jeryd merkte sich vor allem diesen Kämpfer.
Zwei weitere Männer, Bondi und Haal, lernte er noch kurz kennen, doch beide mussten gleich wieder trainieren. Derweil kamen weitere Soldaten in Schwarz vorbeigetrabt, und ihre lauten Stimmen hallten noch lange durch den Flur. Jeryd war bei diesem Anblick unwillkürlich etwas enttäuscht. Schließlich waren diese Männer aufgrund der ihnen von den Kultisten verliehenen Fähigkeiten, die sie stärker und geschickter sein ließen als andere, geradezu legendär, doch sie wirkten hier in ihren Gemächern weiterhin wie ganz normale Leute auf den Rumel.
Später unterhielten sich Jeryd, Nanzi und Brynd in dem mit rötlichen Obsidian vertäfelten Raum, den ein mächtiger Kamin mit hochwillkommener Wärme versorgte. Als sie auf den Fall Haust zu sprechen kamen, bat Jeryd seine Helferin, selbst kleinste Details aufzuschreiben. Nachdem Brynd mit einigen seiner Männer geredet hatte, bestätigte er, der Soldat sei nachts auf einem regulären Patrouillengang verschwunden; auch viele weitere Bewohner der Stadt würden vermisst. Jeryd nahm sich vor, am Sitz der Inquisition alle entsprechenden Anzeigen durchzuarbeiten.
Auf Jeryds Bitte hin führte der Kommandeur ihn in die Stube, die Haust mit fünf Kameraden geteilt hatte. Da das Regiment exerzierte, war das lange, schmale Zimmer leer. Karg und bedrückend aufgeräumt war es dort, und Jeryd erkannte sofort, dass das Soldatenleben niemals etwas für ihn gewesen wäre. Hausts Bett war unberührt, die Laken makellos gefaltet. Einige Blatt Papier lagen – beschwert von einem Frauenarmband – auf Kante ausgerichtet auf dem Nachttisch: ein Brief von seiner Partnerin, einer von seinem Bruder sowie das handgezeichnete Porträt einer attraktiven jungen Dame.
»Alles ist noch genauso, wie er es hinterlassen hat, schätze ich«, sagte der Kommandeur.
Jeryd betrachtete Hausts dürftige Besitztümer. »Sind diese Dinge von seiner Geliebten daheim?«, wollte er wissen.
»Ja, von seiner Frau aus Villjamur. Für ein so junges Paar waren sie schon eine Weile verheiratet, doch Haust ist – wie mancher unserer Soldaten – gern ausgegangen, um sich mit den Mädchen hier zu vergnügen.«
»Das scheinen ja nicht die vertrauenswürdigsten Herren zu sein?«, höhnte Nanzi.
»Ich würde mich jederzeit darauf verlassen, dass er mir den Rücken mit dem Schwert freihält, falls Ihr das meint.« Brynd warf erst Jeryd, dann ihr einen bedeutungsvollen Blick zu, und der Ermittler ließ sich dieses Bild durch den Kopf gehen. »Meine Männer können sich am Abend beschäftigen, womit sie wollen, sofern wir keine militärischen Operationen durchführen.«
Jeryd nickte.
»Aber er hat ihr den Großteil seines Soldes geschickt, damit sie es gut hatte in ihrer Wohnung in einem der höher gelegenen Viertel«, fuhr Brynd fort. »Ihre Briefe haben dafür gesorgt, dass er sich nicht unterkriegen ließ – so ist es übrigens bei vielen meiner Männer.«
»Auch bei Euch?«
Brynd lächelte. »Ich mag die Dinge nicht zu sehr verkomplizieren.«
»Sehr klug«, murmelte Jeryd. »Da er seine kostbaren persönlichen Besitztümer hiergelassen hat, dürfte er nicht einfach getürmt sein.«
Der Kommandeur nickte ernst. »Sollte also jemand einen Nachtgardisten überwältigt haben? Das erscheint mir höchst unwahrscheinlich. In dieser Einheit dienen die besten Kämpfer des Boreal-Archipels. Solche Soldaten überwältigt man nicht einfach.«
Jeryd war sich, was die militärische Tapferkeit der Nachtgardisten anging, gegenwärtig nicht so sicher. »Sollte Haust entführt oder ermordet worden sein, können wir wohl davon ausgehen, dass auch der Täter ein harter Junge ist.«
Als Brynd kurz herausgerufen wurde, nahmen Jeryd und Nanzi seine Einladung gern an, doch etwas im Offizierskasino zu trinken. Nach seiner Rückkehr
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