Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
die alten Inhaber auf die Straße setzen, dient das dem Freien Markt. Aber wie Ihr wisst, mögen manche keine Veränderungen und schlagen dagegen Krawall. Und Platz ist hier kostbar, müsst Ihr wissen, und die Stadt muss Geld verdienen. Dann die Bergleute, die ihre Arbeit verloren haben und während ihres Protestmarschs gewalttätig wurden … Tja, die sind auch sofort hier eingefahren. Derweil laufen Mörder ungehindert und sehr einflussreich in der Stadt herum. Wer als kriminell gilt, das dürfte vor allem eine Frage des Standpunkts sein. Aber wie auch immer: Ich mach nur meine Arbeit, also beklagt Euch nicht bei mir. Und das bleibt unter uns, klar? Ich will deshalb schließlich nicht meinen Job verlieren.«
Villiren enttäuschte Jeryd von Tag zu Tag mehr, und als er sein Büro betrat, war er in tiefes Nachdenken versunken.
Nanzi wartete schon auf ihn.
»Morgen, Nanzi!« Jeryd legte seinen Hut auf den Schreibtisch und ließ sich mit mächtigem Seufzer auf seinen Stuhl sinken.
»Guten Morgen, Herr Ermittler!«, erwiderte sie. »Möchtet Ihr etwas trinken?«
»Danke, ich hab auf dem Weg hierher gut gefrühstückt.« Er rieb sich das Gesicht, um wacher zu werden. »Tja, es hat sich ergeben, dass wir ein paar Hinweise haben.«
»Anhaltspunkte?«
»Ja, auf dem Fest in der Zitadelle. Dort habe ich eine interessante und ungewöhnliche Masse entdeckt. Langsam denke ich, es handelt sich dabei um eine aussichtsreiche Spur.«
»Was für eine Masse denn?«, fragte sie kühl.
»Das weiß ich noch nicht. Schon gestern hab ich etwas davon dem Kommandeur zur Untersuchung gegeben – gut möglich, dass sein Kultist dazu etwas sagen kann und dass sie mit dem Verschwinden vieler Bewohner Villirens zu tun hat.«
»Ermittler Jeryd, Ihr scheint diese Fälle sehr ernst zu nehmen. Das ist bewundernswert, aber braucht Ihr nicht auch Urlaub? Ihr habt doch bestimmt ein Privatleben, um das Ihr Euch kümmern müsst. Ich kann die Sache beim Kommandeur weiterverfolgen und Euch etwas entlasten.«
»Da könntest du recht haben, Mädchen – ich nehme diese Sache wirklich ernst.« Er hatte nicht den Mut, ihr zu sagen, wie viel er dem Leben schuldig zu sein glaubte. Er war seiner Frau treu ergeben, aber auch davon überzeugt, dafür sorgen zu müssen, dass wieder ein wenig Gutes in die Welt kam.
Wie hätte er ihr erklären sollen, dass seine geheime Schuld in jede Handlung seines Lebens einging? Der Vorfall mit seiner Frau in Villjamur hatte ihn verändert. Er hatte sich sehr bemüht, ihn zu verdrängen, doch noch immer traten ihm die Bilder unvermittelt vor Augen und stellten Fragen an ihn.
Einst hatte er gedacht, die dunklen Ereignisse seines Lebens ließen sich nur dadurch bewältigen, anderen zu helfen, aber vielleicht war das falsch: Womöglich floh er stattdessen vor anderen, betrachtete ihre Welt von der Warte seines Schreibtischs her und erwehrte sich seiner Probleme mit einer Dienstplakette und tausend Vermutungen, die er zu einer Theorie verknüpft hatte.
»Ich wüsste nicht, was ich mit Urlaub anfangen sollte. Ich würde vermutlich mit meiner Frau eine Reise machen, aber bei diesem Wetter ist es doch überall gräulich, und abends gehen wir ohnehin regelmäßig aus. Nein, alles, was ich habe, ist meine Arbeit – und ich bin entschlossen, herauszufinden, warum so viele Menschen aus diesen Straßen verschwinden.«
»Das scheint ein fast unlösbarer Fall zu sein«, meinte Nanzi. »Wir könnten uns leichter aufzuklärenden Verbrechen zuwenden, bei denen wir die Täter fassen und Fortschritte machen – zum Beispiel dem Handel mit geraubten Relikten … Gestern hat schon wieder ein Mann seinen Arm verloren, und er hatte noch Glück. Kurz vor Eurer Ankunft in Villiren hat ein Kind auf dem Basar eins dieser Relikte gezündet, sich und drei weitere Menschen getötet und Dutzende Marktbesucher verletzt.«
»Das ist wirklich tragisch«, pflichtete Jeryd ihr bei. »Aber ein guter Ermittler gibt nicht auf – auch nicht, wenn es so aussieht, als ließe sich nichts unternehmen. Manchmal taucht ein Hinweis auf, und die winzigste Entdeckung kann zu gewaltigen Konsequenzen führen. Es ist bloß seltsam, dass ich fast nichts über diesen Fall weiß – und diese Ohnmacht ist mir ausgesprochen unbehaglich.«
Nanzi lächelte sanft. »Wann sehen wir den Kommandeur wieder? Ich wüsste gern, welche Neuigkeiten er hinsichtlich unserer Stadt hat.«
»Ich auch, Mädchen.«
KAPITEL 16
R andur hatte Folkes Hauptinsel ganz anders in Erinnerung.
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