Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
ertragen. Und wenn der Neue tatsächlich aufgenommen war, begannen die eigentlichen Härten erst.
Nachtgardisten mussten bereit sein, sich von Kultisten auf magischem Wege mit besonderen Fertigkeiten ausstatten zu lassen.
Tiendi war bis auf Kniehose und Kurzweste nackt und befand sich in einem steingefliesten Raum im tiefsten Keller der Zitadelle. Sie sollte die erste Nachtgardist in seit Jahren werden – es gab einfach kaum Frauen in der Armee, die körperlich die erforderlichen Ansprüche erfüllten. Nachdem sie es binnen sechs Jahren zur Sergeantin gebracht hatte, hätte Tiendi längst in die Nachtgarde aufgenommen werden sollen: Während vier Feldzügen auf den südlichen Inseln hatte sie sich als überaus tüchtig mit dem Schwert und als ungemein umsichtig auf dem Schlachtfeld erwiesen und nicht wenigen ihrer Kameraden das Leben gerettet. Und sie war erst siebenundzwanzig. Sie würde ihren Dienstrang behalten, doch das war bedeutungslos, da in der Nachtgarde alle bis auf Brynd als Gleiche unter Gleichen galten.
Blavat – die Kultistin, die die Soldaten von Villjamur hierher begleitet hatte – war in einer Ecke mit zwei, drei für die Prozedur üblichen Relikten beschäftigt. Brynd hatte den Eingriff oft miterlebt (natürlich auch am eigenen Leib), doch er war kein Kultist und wusste nicht, wie die Geräte arbeiteten. Er hatte ein paar Fläschchen mit den kostbaren Flüssigkeiten dabei, die Blavat auf Spritzen ziehen würde.
Das bevorstehende Ritual folgte einer altehrwürdigen Tradition und ging seit Jahrhunderten mit der stilisierten Vereinigung des jeweiligen Mitglieds des Ordens der Dawnir und des jeweiligen Kommandeurs der Truppe einher. Diese Sitte war so alt, dass niemand mehr wusste, wie sie begonnen hatte, doch sie hatte unbestritten zur Bindung des Kaiserreichs an einen der großen Orden geführt.
Tiendi wurde mit einer Handbewegung aufgefordert, sich auf einen Steintisch mitten im Raum zu legen, während ihre künftigen Kameraden einen Kreis um sie bildeten und zusahen. Einige Fackeln brannten ruhig und gaben genug Licht, um die Prozedur nicht unheimlicher erscheinen zu lassen, als sie ohnehin war. Nun wurde Tiendi festgeschnallt; die Muskeln ihres bleichen, dünnen Körpers spannten sich; ihr kinnlanges Blondhaar wurde beiseitegestrichen.
Mit konzentriertem Blick verteilte Blavat ihre Geräte rings um die neue Nachtgardistin und passte behutsam einige Einstellungen an. Zwei Metallbleche waren an Tiendis Stirn befestigt, eine Messingspritze auf ihren Nacken gerichtet. Die Kultistin legte flink den Schalter des Zylinders hinter Tiendis Kopf um.
Dann bekam die Soldatin ihre Injektion.
Tiendi schrie und ballte die Fäuste; ein Speichelfaden floss ihr über die Wange. Ein purpurfarbenes Geflecht schien sie zu überziehen wie ein leuchtendes Spinnennetz, obwohl nur ihre Venen und Arterien, wenn auch auf unwirklich wirkende Weise, sichtbar geworden waren. Die Soldatin wollte ihr Gesicht betasten, doch die Arme waren festgeschnallt. Ihre Muskeln schwollen unter vergeblichem Mühen an, während Blavat die ganze Zeit lässig auf den sich windenden Körper der jungen Frau blickte. Brynd sah besorgt zu, denn diese Prozedur ging nicht immer ohne Verluste ab.
Als Tiendis Schreie verstummten und ihr Schmerz nachließ, wurde sie losgebunden. Sie rollte vom Tisch, sackte schwitzend zu Boden, schlang die Arme um den Leib und kniff die Augen zu, um die Tränen zurückzuhalten. Langsam ebbte die Erschütterung ab, und sie sah sich im Zimmer um, als erblickte sie alles zum ersten Mal.
Brynd wusste, was geschah: Sie gewöhnte sich an ihre verbesserte Sehfähigkeit, die sie alles – auch in tiefer Nacht und grellem Licht – exakter wahrnehmen ließ (und dazu die Farben jenseits des menschlichen Sichtspektrums). Die ganze Welt stand ihr nun viel deutlicher vor Augen.
Brynd lächelte, als die übrigen Nachtgardisten Tiendi umdrängten, ihr auf den Rücken klopften und sie herzlich in der Elitetruppe willkommen hießen.
KAPITEL 22
K lirrend stellte Randur einen Becher auf den Tisch neben dem Sofa. Munio erwachte und starrte ungläubig ins Feuer. Es loderte in einem Kamin, neben dem die Scheite säuberlich gestapelt waren; selbst der Kaminsims war gründlich geputzt. Randur hatte diesen Teil des Herrenhauses nahezu bewohnbar gemacht.
»Ah!«, meinte er. »Wie ich sehe, ist die Prinzessin aus dem Schlaf erwacht.«
»Wie spät ist es denn?«
»Spätnachmittags – bald Zeit zum Abendessen.«
Munio stemmte
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