Die Legende der Wächter 10: Der Auserwählte (German Edition)
gesprächig. Hoole musterte sie von oben bis unten. Er kannte bis jetzt nur drei Eulenarten. Onkel Gränk war ein Fleckenkauz wie er selbst, Theo war ein Uhu und Berwick ein Raufußkauz. Die fremde Eule hatte über jedem Auge eine gebogene Linie aus kurzen weißen Federn. Ihr zerzaustes Gefieder hatte unregelmäßige helle Stellen. Waren das Tupfen oder Streifen? Oder war es einfach Schmutz?
„Was hast du da?“ Hoole deutete mit dem Schnabel auf die hellen Stellen.
„Was habe ich wo? Meinst du meine Flügel?“
„Nein, die hellen Stellen dort. Sind das Tupfen oder Streifen oder was?“
„Oder was.“
„Hä?“
„Oder was!“, wiederholte die fremde Eule.
„Wovon redest du?“
„Du hast mich gefragt, ob die hellen Stellen in meinem Gefieder Tupfen oder Streifen oder was sind. Sie sind ,oder was‘.“
„Also keine Tupfen oder Streifen.“
„Richtig.“
„Sie sehen so … so …“
„So wie ?“
„So unordentlich aus.“
„Kein Wunder. Du würdest auch unordentlich aussehen, wenn dich der Sturm drei Tage lang herumgeschleudert hätte. Wenn dich die Eisklamm eingesogen hätte und du beinahe in eine Hägsdämonin reingeflogen wärst.“
„Was ist eine Hägsdämonin?“
„Das weißt du nicht? Wo lebst du denn?“, fragte die fremde Eule zurück.
„Na, hier.“
„Hör zu, ich bin todmüde. Ich muss schlafen.“ Die fremde Eule stellte sich aufrecht hin und schloss die Augen. In dieser Haltung schlafen Eulen, wenn sie nicht in ihrer Baumhöhle sind.
„Jetzt schlaf bitte nicht ein! Ich muss dich noch was fragen.“
„Erbarmen, großer Glaux!“, seufzte die fremde Eule.
„Bist du denn schon ausgewachsen? Du bist so … mickrig.“
„Mickrig? Das klingt aber nicht nett.“ Die fremde Eule zog die Federbögen über den Augen hoch.
„Klingt ,klein‘ besser?“
„Geht so. Und ja, ich bin ausgewachsen.“
„Wie alt bist du denn?“
Gütiger Glaux, hört der Bursche gar nicht mehr auf, mir Löcher in den Bauch zu fragen? „Ich bin vor einem Jahr geschlüpft.“
„Warum bist du dann immer noch so klein?“
„Weil ich ein Sperlingskauz bin. Unsereiner wird nun mal nicht größer. Kapierst du’s jetzt endlich?“
„Ist ja gut, ist ja gut. Reg dich ab.“
„Reg dich selber ab! Und hör endlich auf, mich mit Fragen zu löchern.“
Letzteres überhörte Hoole geflissentlich. „Bist du ein Männchen oder ein Weibchen?“
„Ich bin … AUSSER MIR !“, stieß die fremde Eule hervor.
„Du bist außer dir? Haha! Wo bist du denn hin? Du stehst doch noch vor mir!“ Vor lauter Übermut flog Hoole einen kleinen Salto. „Kommst du aus den Hinterlanden? Mein Onkel redet dauernd von den Hinterlanden.“
„Das wundert mich nicht. Ihr seid hier ja anscheinend völlig hinter dem Mond.“
„Hinter dem Mond!“ Hoole schüttete sich aus vor Lachen.
„Ich bin übrigens ein Männchen“, sagte Phineas säuerlich.
„Ich auch! Ich hab noch nie ein Weibchen kennengelernt, deswegen hatte ich eigentlich gehofft, du wärst eins. Aber ich bin nicht sauer, dass du ein Männchen bist. Keine Angst.“
„Na, da bin ich aber froh“, erwiderte Phineas spitz. „Ich kann nämlich nichts dran ändern.“
„Weiß ich doch“, sagte Hoole großmütig. „Ich weiß alles über Männchen und Weibchen. Mein Onkel hat’s mir erzählt und Bruder Berwick auch.“ Er machte eine Pause. „Mein Onkel … er zieht mich groß, weil ich eine Waise oder so was sein soll. Ich glaube das aber nicht. Bruder Berwick ist ein Raufußkauz. Er ist mein Freund. Leider ist er vor ein paar Tagen fortgeflogen.“
„Ich glaube, ich bin ihm begegnet. Der Sturm hat ihn an mir vorbeigewirbelt.“
„Hoffentlich geht es ihm gut.“
„Ich hatte den Eindruck, dass er ein erfahrener Flieger ist.“
„Willst du mit in unsere Höhle kommen und meinen Onkel und Theo kennenlernen?“
Phineas überlegte. Was hatte er schon zu verlieren? Der junge Fleckenkauz würde ihn ja doch nicht in Ruhe lassen. Vielleicht bekam er in der Höhle etwas zu fressen. Er war zu erschöpft, um selbst auf die Jagd zu fliegen.
„In Ordnung.“
„Juhuuu!“ Hoole flog abermals einen Salto, diesmal sogar rückwärts. Er zwinkerte Phineas zu. „Bald schaff ich einen doppelten. Ich muss aber noch üben.“
Phineas verdrehte die Augen.
„Onkel Gränk, Theo! Wo seid ihr?“ Hoole und Phineas landeten auf dem Ast vor der Baumhöhle.
Gränk streckte den Kopf aus dem Eingang. Theo verließ seine Schmiede und kam zu ihnen
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