Die Legende der Wächter 10: Der Auserwählte (German Edition)
seine Flügel. Wenn er an sich herunterschaute, erblickte er seine gefiederten Beine. Wenn er sich umdrehte, erblickte er sein Schwanzgefieder. Und doch war er im Herzen – nicht im Magen – ein Wolf. Seine Rufe klangen wie Wolfsgeheul. Sein Geruchssinn war geschärft. Lauter unbekannte Witterungen drangen auf ihn ein. Ich habe zwei Körper – meinen eigenen und den von Fengo.
Unterwegs schlossen sich ihnen weitere Wölfe an. Die meisten gehörten zu Fengos Clan. Wölfe jagen im Rudel. Ein einzelner Wolf kann kein Rentier zur Strecke bringen, geschweige denn einen Elch. Die Jagd folgt einer ausgeklügelten Taktik.
Hoole begriff instinktiv, welche Byrrgis – das heißt Laufordnung – die Wölfe einhielten. Die Weibchen waren die schnelleren Läuferinnen. Sie bildeten die Spitze des Rudels. Die schwerfälligeren Männchen übernahmen die Nachhut. Neben Fengo lief ein jüngerer Wolf namens Dunmore. Er hatte ein verkrüppeltes Hinterbein und humpelte.
Hooles Flügel bewegten sich im Einklang mit den Beinen der Wölfe. Sein Herz schlug im gleichen Takt wie ihre Herzen. Fengo und Dunmore hingen lange Speichelfäden aus den offenen Mäulern. Auch Hooles Schnabel stand offen und er spürte etwas Feuchtes hinter sich herwehen.
Ganz hinten in der Gruppe der Weibchen trabte eine Wölfin, deren Ohren nur noch Stummel waren. Sie war Hoole schon früher aufgefallen. Die anderen Wölfe hielten sich von ihr fern. Auch ausgewachsene Wölfe sind verspielt. Sie jagen einander zum Spaß oder werfen einander Knochen zu. Die Wölfin war an diesen Spielen nie beteiligt. Auch sonst bezogen die anderen Wölfe sie nicht ein. Darum wunderte sich Hoole, dass sie trotzdem bei der Jagd mitmachte. Die Weibchen, die neben ihr liefen, wirkten angespannt. Sie trauen ihr nicht , ging es Hoole durch den Kopf. Sie fürchten sich vor ihr. Warum nur? Hoole empfand Mitgefühl mit der Außenseiterin. Vor ihr braucht man sich nicht zu fürchten. Sie ist einfach nur unendlich traurig. Merkt das denn außer mir keiner?
Bei Tagesanbruch löste sich die Byrrgis auf. Die Wölfe gönnten sich eine kurze Rast. In der hügeligen Landschaft ringsum gab es zahlreiche Höhlen. Die Wölfe suchten sich die größte aus. Hoole folgte ihnen nach drinnen. Es schien niemanden zu stören.
Ein kleiner Jagdtrupp wurde ausgeschickt. Als die Jäger mit mehreren Wieseln und Kaninchen zurückkehrten, riss Fengo die Beute in verschieden große Stücke und verteilte sie je nach Rang unter den Wölfen. Die Wölfin mit den Stummelohren – sie hieß Horda – bekam nur ein kümmerliches Kaninchenbein. Sogar Hooles Portion war größer. Beim Fressen schmatzte er genau wie die Wölfe um ihn herum. Vielleicht halten sie mich ja für einen der Ihren , dachte er. Abermals schaute er prüfend an sich herunter. Er sah aus wie immer. Wie ein Fleckenkauz. Merkwürdig …
Nach dem Fressen war Hoole müde. Er setzte sich aber nicht wie sonst auf einen erhöhten Felsvorsprung, sondern legte sich wie die Wölfe auf den Boden. Horda kauerte abseits von den anderen. Hoole schob sich im Liegen an sie heran, aber Fengo schüttelte den Kopf. Hoole rutschte wieder zurück. Dann schlief er ein.
Er träumte einen Wolfstraum. Er trabte hinter den Weibchen her und stürmte dann plötzlich mit großen Sätzen los. Als die Beute in Sicht kam, duckte er sich ins Gras und verständigte sich stumm mit den anderen Wölfen. Gerade als sie die Beute einkreisen wollten, wachte er auf. Auch die Wölfe um ihn herum waren erwacht. Fengo stand draußen vor der Höhle und reckte witternd die Schnauze.
Rentiere!
Die anderen Wölfe sprangen auf. Mit erhobenen Schwänzen trabten sie los, der aufgehenden Sonne entgegen. Hoole erspähte die Rentierherde als Erster. Die Rentiere witterten die Wölfe auch und liefen schneller. Fengo gab den anderen Wölfen ein Zeichen, die Herde abzudrängen. Los, treibt sie nach Westen! Klar , dachte Hoole. Noch ein paar Minuten und die Sonne würde uns blenden.
Vier Weibchen lösten sich aus dem Rudel, teilten sich in Zweiergruppen auf und keilten die Rentierherde ein, die daraufhin die Richtung änderte. Die anderen Wölfe hielten noch Abstand. Fengo ließ den Blick über die Herde schweifen. Er hielt Ausschau nach einem schwächeren Tier. Einer leichten Beute.
Schließlich hatte er eine ältere Rentierkuh entdeckt, die am Ende der Herde lief. Sie fiel immer weiter zurück, bis Fengo schließlich vor ihr war. Die Rentierkuh war jetzt von der Herde getrennt, aber sie
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