Die Legende der Wächter 4: Die Belagerung
Aber wisst ihr, was ihr unbedingt noch lernen müsst? Das Allerwichtigste!“ Die Elfenkäuzin blickte in die Runde.
„Was denn?“, fragte Martin.
Gylfie blinzelte Soren zu. Der junge Schleiereulerich wusste, was jetzt kam. „Ihr müsst lernen, euch nicht mondwirr machen zu lassen.“
Die Schergen von Sankt Ägolius hatten Soren und Gylfie entführt und an einen Ort gebracht, wo die Eulen tagsüber nicht schliefen. Die beiden Jungvögel mussten feststellen, dass man im Sankt Äggie den naturgegebenen Ablauf umkehrte. Die gefangenen Eulenkinder mussten nachts schlafen. Aber das war noch nicht alles. Man wurde auch noch in gewissen Abständen geweckt und musste beim sogenannten „Schlafmarsch“ seine Runden drehen. Soren und Gylfie hatten bald begriffen, dass die Eulenkinder auf diese Weise dem Mondlicht ausgesetzt werden sollten. Niemand durfte sich längere Zeit in den schützenden Schatten der Felswände zurückziehen. Erwachsene Eulen wussten, dass Verstand und Magen schlimm geschädigt wurden, wenn man bei Mondlicht schlief. Besonders verderblich war der sogenannte „volle Schein“, wenn der Mond kreisrund am Himmel stand. Junge, noch nicht ausgewachsene Eulen waren besonders gefährdet. Sie wurden von der geheimnisvollen „Mondwirrnis“ befallen. Das bedeutete, dass sie ihre Persönlichkeit und ihre Willenskraft einbüßten.
Um diese Wirkung noch zu beschleunigen, bekam im Sankt Äggie jedes neue Eulenkind eine Nummer, die seinen Namen ersetzte. Beim Schlafmarsch musste man seinen alten Namen unablässig laut wiederholen, bis er keinerlei Bedeutung mehr hatte und nur noch eine unsinnige Lautfolge war. Soren und Gylfie hatten aber eine List angewandt und statt ihrer Namen ihre Nummern wiederholt. Auf diese Weise waren die Nummern bedeutungslos geworden und nicht die Namen.
Die beiden dachten sich noch andere Tricks aus, die zum Teil ziemlich riskant waren. Sie fanden zum Beispiel heraus, dass sie der Mondwirrnis entgehen konnten, wenn sie leise die Legenden von Ga’Hoole aufsagten. Damals hatten Soren und Gylfie diese uralten Geschichten, die sie von ihren Eltern kannten, noch für Märchen gehalten. Sie hatten nicht geahnt, dass es den Großen Ga’Hoole-Baum tatsächlich gab und dass die Geschichten wahr waren. Jedenfalls hatten die Legenden sie davor bewahrt, mondwirr zu werden oder gar einen Mondstich zu bekommen.
Diese Kniffe gaben sie nun an ihre Freunde weiter. Jeder musste ein, zwei Legenden auswendig lernen und im Flüsterton aufsagen. Soren war davon überzeugt, dass es nicht darauf ankam, laut zu sprechen. Es war auch nicht wichtig, ob man die jeweilige Legende einer anderen Eule erzählte oder sozusagen Selbstgespräche führte. Es ging vielmehr darum, dass die Geschichte in einem zum Leben erwachte, erst im Magen, dann im Herzen.
Ruby fiel es wesentlich leichter, die Legenden von Ga’Hoole auswendig zu lernen als die Sippen der Nordlande. Da sie die beste Fliegerin der Glutsammlerbrigade war, teilte ihr Soren den sogenannten Ga’Hoole-Feuerzyklus zu. Das war eine Reihe von Legenden, die von Waldbränden handelten.
Morgengrau stürzte sich natürlich auf den sogenannten Kriegszyklus. Gylfie, die der Navigationsbrigade angehörte und sich hervorragend mit Sternbildern auskannte, prägte sich den Sternenzyklus ein. Feuer-, Kriegs- und Sternenzyklus waren die drei großen Gruppen der Legenden von Ga’Hoole. Die übrigen Legenden erzählten entweder vom Wetter oder von einzelnen Helden und Bösewichten. Sie wurden zwischen Otulissa, Digger und Soren aufgeteilt. In diesen Geschichten ging es darum, wie Eulen kühne Taten vollbrachten. Es waren Geschichten, die einem vom Magen geradewegs ins Herz gingen.
Ein ganz besonderer Feuersteindienst
Es war der Tag vor dem Aufbruch. Als es dunkel wurde, erwachten die sieben jungen Eulen. Tagsüber hatten sie kaum geschlafen. Vor allem Martin, Ruby und Otulissa waren aufgeregt. Soren, Digger, Gylfie und Morgengrau bewohnten wenigstens eine gemeinsame Schlafhöhle. Aber wenn man wie die anderen drei die Höhle mit Eulen teilte, die keine Ahnung hatten, was einem bevorstand, war man mit seinen Ängsten ganz allein. Furcht machte sich in den Mägen aller sieben breit. Werde ich meine Rolle überzeugend spielen? Kann ich meinen Abschnitt aus den Legenden von Ga’Hoole noch auswendig? Wird man mich mondwirr machen? Oder bekomme ich gar einen Mondstich? Das waren ihre Gedanken. Am meisten fürchteten sie sich jedoch davor, dass man sie in Sankt
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