Die Legende der Wächter 6: Die Feuerprobe
jetzt gleich loszuschlagen und den Feind zu überrumpeln. Bis zur Mondfinsternis sind es noch zwei Nächte. Die junge Fleckenkäuzin Otulissa schlägt in ihrem Schlachtplan vor, nicht am Uhutor anzugreifen, sondern auf der gegenüberliegenden Seite.“ Als Otulissa ihren Namen hörte, plusterte sie sich stolz auf. „Hinzu kommt, dass über dem Hoolemeer eine Sturmfront aufzieht. Uns Wächtern macht es nichts aus, bei Meerwind zu fliegen, das sind wir gewohnt. Weil es bald Winter wird, führt der Sturm Hagel, Blitze und Regen mit sic h – das wird dem Feind gar nicht schmecken.“
Der ehrwürdige Glutsammler-Ryb Elvan hatte einen Einwand. „Die Eulen aus Sankt Äggie haben aber keine Erfahrung darin, bei Meerwind zu fliegen.“
„Wir nehmen sie in die Mitte und erzeugen ein windstilles Vakuum. So machen es die Nordland-Eulen, wenn sie Verletzte durch die katabatischen Winde tragen. Ich habe die Methode schon mit einigen meiner Wetterflieger und weiteren Eulen geübt.“
„Wird Soren die Sankt-Ägolius-Eulen auch unterstützen?“, erkundigte sich die Schnee-Eule Barran, Borons Gattin, mit ihrer sanften Stimme.
„Ganz gewiss, Herrin“, erwiderte Ezylryb. „Ich möchte hier einmal sagen, dass viele von uns Soren falsch einschätzen. Er wird sich mit vollem Einsatz an dem Eroberungsangriff beteiligen, da bin ich ganz sicher.“
„Habe ich richtig verstande n …“, das war die bildhübsche Kundschafter-Ryb Sylvana, „ … dass wir die Reinen angreifen wollen, obwohl wir keine Verbündeten aus den Nordlanden anwerben konnten?“
„Ganz recht!“, entgegnete das Königspaar in entschiedenem Ton.
Barran sprach weiter: „Die Brigade der Besten wurde in den Nordlanden im Umgang mit Eiswaffen ausgebildet und hat ihr Wissen hier im Baum an andere Eulen weitergegeben.“
Sylvanaryb war noch nicht überzeugt. „Haben wir denn genug Eiswaffen für alle?“
„Nein“, sagte Ezylryb barsch. „Wir müssen trotzdem losschlagen. Jetzt oder nie! Hier im Süden bleiben die Eiswaffen nicht ewig scharf und der Sturm zieht auch irgendwann weiter. Wir können wirklich nicht länger warten!“
„Und wann soll es deiner Meinung nach losgehen?“, fragte Sylvanaryb so leise, dass die Lauschenden unten im Wurzelwerk sie kaum verstanden.
„Heute beim ersten Dunkel. Das ist in etwa zwei Stunden.“
„Hol Audrey herein, Fenton“, sagte Boron. Fenton war der Saaldiener.
„Audrey?“, entfuhr es der überraschten Otulissa, doch sie bewegte nur lautlos den Schnabel. Die Blindschlange Audrey war Nesthälterin bei Otulissas Eltern gewesen und hatte die verwaiste Otulissa in den Großen Baum begleitet. Dort war Audrey in die Weberinnengilde aufgenommen worden. Die jungen Eulen drückten die Ohrschlitze noch fester an die Wurzeln. Man hörte bewunderndes „Oooh!“ und „Aaah!“, dann sagte Barran: „Ihr habt hervorragende Arbeit geleistet, Audrey.“
Worauf mochte sich das beziehen? Die jungen Eulen platzten vor Neugier.
„Danke, Herrin. Es war uns ein Vergnügen“, erwiderte Audrey bescheiden.
„Sie sehen wirklich wie richtige Eulen aus.“
„Zum Glück hatten wir genug Federn zur Verfügung. Bei der Mauser in diesem Frühjahr konnten wir einen großen Vorrat sammeln. Eigentlich polstern wir damit die Lager in der Krankenstube. Wer hätte gedacht, dass wir eines Tages Eulendocken daraus herstellen?“
Eulendocken! Die Lauscher schauten einander an. Docken waren kleine Puppen in Eulengestalt. Euleneltern bastelten sie aus ausgezupften Dunen und ausgefallenen Federn für ihre Kinder zum Spielen. Bestimmt sollten die von den Nesthälterinnen gefertigten Docken dazu dienen, den Feind irrezuführen!
„Dann kann das Täuschungsmanöver ja losgehen“, kam es wie zur Bestätigung von Boron.
„Percy ist schon zum Uhutor unterwegs“, verkündete Bubo. „Er wird von Nussknacker und Silber unterstützt.“ Nussknacker und Silber! Soren und Otulissa wechselten einen bestürzten Blick, denn sie dachten das Gleiche: Die beiden sind doch noch halbe Küken! Doch die Fleckenkäuzin und der Schleiereulerich sahen Silber und Nussknacker noch so vor sich, wie sie die Jüngeren auf ihrem ersten Flug mit der Wetterbrigade kennengelernt hatten. Das war etliche Sommer he r – inzwischen waren sie alle älter geworden.
Es geht los!
Bis zum ersten Dunkel dauerte es nur noch eine knappe Stunde, doch in dieser kurzen Zeitspanne zwischen Sonnenuntergang und Mondaufgang hatte ein zwölfköpfiges Geschwader den Großen Baum
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