Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
unbeschadet überstanden. Cub packte sich einen der Knochen, die durch die Löcher ragten, zerrte ihn heraus und machte sich darüber her. Er riß das Fleisch herunter, nagte ihn blank und hielt ihn dann mit den Vorderpfoten am Boden fest, um die Gelenkknorpel zu zerknacken. Ich folgte seinem Beispiel, griff nach einem fleischigen Markknochen und –
– war plötzlich wieder Mensch. Wie das Erwachen aus einem Traum, wie das Zerplatzen einer Seifenblase. Cubs Ohren zuckten, und er wandte den Kopf zu mir, als hätte ich etwas gesagt. Aber ich hatte nicht gesprochen, nur mein Selbst von seinem gelöst. Von einem Augenblick zum anderen klapperte ich vor Kälte mit den Zähnen, Schnee taute in meinen Stiefeln, im Kragen und dem Hosenbund. An meinen Händen und Unterarmen hatte ich rote, geschwollene Striemen von den spielerischen Bissen. Mein Umhang hatte zwei Risse, und ich fühlte mich so zerschlagen, als wäre ich aus einem ohnmachtsähnlichen Schlaf erwacht.
Was ist? Aufrichtige Sorge. Warum bist du weggegangen?
Es ist nicht richtig. Ich darf nicht wie du sein. Es ist falsch.
Verwirrung. Falsch? Wenn es in dir ist, wie kann es falsch sein?
Ich bin ein Mensch, nicht ein Wolf.
Manchmal, stimmte er zu. Manchmal das eine, manchmal das andere.
Eben das ist nicht recht. Ich will nicht so eng mit dir verbunden sein. Diese Nähe ist nicht gut. Ich muß dich in die Freiheit entlassen, in das Leben, für das du bestimmt bist. Und ich muß das Leben führen, für das ich bestimmt bin.
Ein verächtliches Zähneblecken. Wir sind, wie wir sind, Bruder. Wie kannst du behaupten zu wissen, was für ein Leben ich führen sollte, erst recht dir anmaßen, es mir aufzuzwingen. Du bist nicht einmal imstande zu akzeptieren, was deine Bestimmung ist. Du leugnest es noch, während du es bist. All dein Geschwätz ist Unsinn. Ebensogut könntest du deiner Nase verbieten, den Wind zu lesen, oder deinen Ohren zu hören. Wir sind, was wir tun. Bruder.
Ich ließ die Deckung nicht sinken, ich gab ihm nicht die Erlaubnis, doch er drang in mein Bewußtsein, wie der Sturm durch ein offenes Fenster fegt und einen Raum erfüllt. Die Nacht und der Schnee. Fleisch zwischen den Zähnen. Lauschen, wittern, heute nacht ist die Welt voller Leben. So wie wir. Laß uns jagen bis zum Morgen, unsere Augen sind scharf, unsere Kiefer sind stark, und wir können einen Bock reißen und uns am süßen, blutwarmen Fleisch laben. Hab Mut! Hab Mut zu sein, was du bist!
Einen Lidschlag später war ich wieder ich selbst. Ich stand aufrecht, zitterte am ganzen Leib. Ich hob die Hände, sah sie an, und auf einmal erschien mir mein eigenes Fleisch fremd und beengend, so unnatürlich wie die Kleider, die ich trug. Ich konnte fortgehen, jetzt, heute nacht, um unseresgleichen zu suchen, und niemand wäre je imstande, uns zu folgen, schon gar nicht, uns zu finden. Er bot mir eine mondhelle Welt in Schwarz und Weiß, keine Zweifel, keine Fragen, einfach und vollkommen.
Wir starrten uns an, seine grünschillernden Lichter lockten mich. Komm. Komm mit mir. Was haben solche wie wir mit den Menschenwesen zu schaffen und ihren armseligen Werken. Bei all ihrem Gezänk und Gezerre ist nicht ein Bissen Fleisch zu gewinnen, ihren Listen mangelt der Witz, und sie können keine einfache Wonne einfach genießen. Weshalb willst du bei ihnen bleiben? Komm mit! Komm mit mir!
Ich blinzelte. Schneeflocken hingen an meinen Wimpern, und ich stand fröstelnd in der Dunkelheit. Nur wenige Schritte von mir entfernt erhob sich ein Wolf und schüttelte sich heftig. Die Rute waagerecht und die Ohren gespitzt, kam er auf mich zu, rieb seinen Kopf an meinem Bein und stieß mit der Nase gegen meine kalte Hand. Ich ließ mich auf ein Knie nieder und legte die Arme um ihn, fühlte die Wärme seiner Halskrause unter meinen Händen, die Festigkeit von Muskeln und Knochen Er roch gut, gesund und wild. »Wir sind, was wir sind, Bruder. Friß – es soll dir schmecken«, sagte ich, rieb ihm die Ohren und stand auf. Als er mit den Zähnen den Knochensack packte, um ihn in die Mulde zu schleifen, die er sich unter der Kate gegraben hatte, wandte ich mich ab Die Lichter der Burg blendeten mich fast, aber ich ging trotzdem darauf zu. Ich hätte nicht sagen können, weshalb. Aber doch, der Mensch in mir wollte es.
KAPITEL 10
NARRENPOSSEN
In Friedenszeiten war die Schulung in der Gabe den Angehörigen der königlichen Familie vorbehalten, um dieser Fähigkeit den Nimbus des Außergewöhnlichen zu
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