Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
einfach. Selbst Atmen wird zu einer Anstrengung, wenn man das Ein und Aus von jedem Quentchen Luft verfolgt. Ich blinzelte und merkte plötzlich, daß er sich mittlerweile in seinem Arbeitszimmer befand und seine üblichen Morgentätigkeiten verrichtete. Charim kam mit einem Anliegen und ich vernahm ihr Gespräch wie das entfernte Summen eines Bienenschwarms.
Von Nachtauge war nichts zu sehen. Ich bemühte mich, weder an ihn zu denken, noch nach ihm auszuschauen, eine anstrengende mentale Negierung, mindestens ebenso kräftezehrend, wie Veritas’ Bewußtsein an mich gebunden zu halten. Wie schnell es mir zur zweiten Natur geworden war, nach meinem Wolf zu spüren und ihn ansprechbar zu finden, daß ich mich jetzt verlassen fühlte und so unsicher, als fehlte mir das vertraute Messer am Gürtel. Nur Molly besaß die Macht, ihn völlig aus meinen Gedanken zu verdrängen, aber auch das bot keinen Trost. Veritas hatte mich für mein Verhalten in der vergangenen Nacht zwar nicht getadelt, doch ich wußte, er betrachtete es als nicht sehr ehrenhaft, und ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, daß ich ihm beipflichten würde, wenn ich mir die Zeit nähme, in Ruhe darüber nachzudenken. Da ich mich einer solchen Erkenntnis zur Zeit nicht gewachsen fühlte, ließ ich meine Gedanken auch um dieses Thema einen Bogen machen.
Ganz offenbar verwendete ich unverhältnismäßig viel Mühe darauf, an möglichst wenig zu denken. Ich schüttelte energisch den Kopf und öffnete mich dem Tag. Der Weg, dem ich folgte, wurde nur wenig benutzt. Er schlängelte sich durch das hügelige Hinterland, und die häufigsten Reisenden waren Ziegen und Schafe. Es war ein Gebiet kleiner, weit verstreuter Gehöfte, bewohnt von einfachen Landleuten.
Der Weg wurde schmaler und führte als Tunnel in die grüne Düsternis der majestätisch aufragenden Tannen. Zwischen ihren säulengleichen Stämmen lag der Schnee in unregelmäßigen Inseln auf dem Nadelteppich, der größte Teil der winterlichen Pracht ruhte noch auf den ausladenden Ästen und Zweigen. Es gab kaum Unterholz, eine gute Gelegenheit, vom Weg abzubiegen, in das verwunschene Zwielicht unter dem schneebeladenen Baldachin. Rußflockes Hufschlag fiel dumpf in die feierliche Stille.
Du scheinst zu wissen, wo die Entfremdeten sich aufhalten. Habe ich recht?
Sie wurden am Ufer eines bestimmten Bachs gesehen, bei dem Kadaver eines verendeten Rehbocks. Ich dachte mir, wir könnten von dort ihre Fährte aufnehmen.
Wer hat sie gesehen?
Ich zögerte. Ein Freund. Er hat eine Scheu vor Menschen, doch mir ist es gelungen, sein Vertrauen zu erwerben, und manchmal, wenn er etwas Ungewöhnliches entdeckt, kommt er und berichtet mir davon.
Hm. Ich konnte Veritas’ Vorbehalte spüren, als er meine wenig aussagekräftige Erklärung überdachte. Nun gut, lassen wir es dabei. Manche Geheimnisse haben ihre Berechtigung. Ich erinnere mich an ein kleines, einfältiges Mädchen, das oft zu Füßen meiner Mutter zu sitzen pflegte. Meine Mutter sorgte dafür, daß sie Kleidung und zu essen bekam, und schenkte ihr Spielzeug und Süßigkeiten. Niemand hat die Kleine beachtet. Doch eines Tages kam ich unerwartet herein und hörte, wie sie meiner Mutter von einem Mann im Wirtshaus erzählte, der hübsche Halsketten und Armbänder zum Kauf angeboten habe. Wenige Tage danach verhaftete des Königs Garde Rife, den Straßenräuber, in eben diesem Wirtshaus. Stille und unauffällige Menschen wissen oft sehr viel.
Das stimmt.
In freundschaftlichem Schweigen ritten wir weiter. Gelegentlich mußte ich mich daran erinnern, daß Veritas nicht körperlich anwesend war. Aber ich fange an zu wünschen, ich wäre es. Es ist zu lange her, daß ich zu Pferd durch die Hügel gestreift bin, einfach nur aus Freude am Reiten. Mein Leben ist begraben unter einem Berg von Pflichten. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal etwas nur zum Spaß getan habe.
Ich nickte zu seinen Gedanken, als ein Schrei die Stille des Waldes zerriß. Es war ein wortloser Aufschrei aus einer jungen Kehle, und bevor ich mich zu beherrschen vermochte, spürte ich danach. Verständnisloses Entsetzen, Todesangst und plötzliches Grauen von Nachtauge fluteten mir entgegen. Während ich mein Bewußtsein davor verschloß, warf ich Rußflocke herum und trieb sie in die Richtung, die die Macht mir gewiesen hatte. Eng an ihren Hals geschmiegt, spornte ich sie durch das Labyrinth der Baumstämme, Schneeverwehungen und herabgefallenen Äste. Eine
Weitere Kostenlose Bücher