Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
recht gehabt, diese Bitte erfüllte ich ihm nicht gerne. Doch ich hatte bereits meine Zusage gegeben. Was er verlangte, diente dem Wohl des Königreichs. Aber mein eigenes Wohl?
Schon seit längerem hatte ich gespürt, wie die Grenzen meines selbst unter dem Druck von Veritas’ starker Persönlichkeit zu bröckeln begannen, und diesmal war nicht die Rede von einem Tage oder Stunden dauernden Kontakt, sondern es handelte sich um Wochen, vielleicht Monate. Erging es so den Mitgliedern einer Kordiale, wenn sie irgendwann aufhörten, ein eigenständiges Leben zu führen? »Was ist mit Eurer Kordiale?« fragte ich.
»Was soll damit sein? Sie bleiben, wo sie sind, in den Wachtürmen und auf den Schiffen. Ihre Nachrichten können sie an Serene übermitteln, und sie erstattet dem König Bericht. Falls es etwas gibt, von dem sie glauben, ich müßte es erfahren, können sie zu mir denken.« Er nickte mir zu. »Durch dich hoffe ich andere Informationen zu erhalten. Vertrauliche Informationen.«
Wie es seiner Königin geht, dachte ich. Wie Edel in Abwesenheit seines Bruders schaltet und waltet. Klatsch und Intrigen. Trivialitäten, doch anders betrachtet, die Einzelheiten, die Veritas halfen, seine Stellung abzusichern. Zum tausendsten Mal wünschte ich mir, ich besäße die uneingeschränkte Fähigkeit der Gabe, dann hätte ich jederzeit zu Veritas hindenken können. Doch wie die Dinge standen, war der durch Berührung hergestellte Gabenbund unsere einzige Möglichkeit der Kommunikation. Auf diese Weise konnte er die Vorgänge auf Bocksburg verfolgen und mir Anweisungen geben, falls es notwendig schien. Ich zögerte, obwohl ich schon wußte, daß ich nachgeben würde. Aus Loyalität ihm und den Sechs Provinzen gegenüber versicherte ich mir selbst, nicht, weil sich in mir der Gabenhunger regte. »Ich bin einverstanden.«
»Wohl wissend, was es bedeutet«, sagte er. So genau kannten wir schon einer den Sinn des anderen. »Ich werde mich so unauffällig verhalten wie ich kann«, versprach er mir. Ich trat zu ihm, er hob eine Hand und berührte meine Schulter. Veritas war wieder bei mir, zum erstenmal – seines Wissens – seit dem Tag in seinem Arbeitszimmer, als er mir befohlen hatte, mich abzuschirmen.
Am Tag der Abreise herrschte schönes Wetter, es war klirrend kalt, aber der Himmel hoch und blau. Wie versprochen, hatte Veritas den Aufwand so gering wie möglich gehalten. Gleich am Morgen nach der Beratung waren Reiter ausgesandt worden, um in den Ortschaften entlang der geplanten Route für Quartier und Proviant zu sorgen. So war zu hoffen, daß die erste Etappe der Reise schnell und verhältnismäßig bequem vonstatten gehen würde.
Als seine Expedition sich an dem frostklaren Morgen zum Abmarsch rüstete, sagte ich als einziger in der Menge Veritas nicht Lebwohl. Er ruhte in meinem Kopf, still und klein wie ein Samenkorn, das auf den Frühling wartet. Beinahe ein so selbstverständlicher Bestandteil meiner Selbst wie Nachtauge.
Kettricken hatte sich entschlossen, dem Aufbruch von den Zinnen des Dachgarten aus zuzusehen. Sie hatte sich unter vier Augen von ihm verabschiedet und diesen Platz gewählt, um unbeobachtet zu sein, falls ihr die Tränen in die Augen stiegen. Ich stand neben ihr und ertrug den Widerhall des Glücks, das sie mit Veritas in der vergangenen Woche geteilt hatte. Einerseits freute ich mich für sie, andererseits tat mir leid, daß ihr so schnell genommen wurde, was sie gerade erst gefunden hatte. Pferde und Reiter, Packtiere und Banner verschwanden schließlich hinter einer Bergschulter und waren nicht mehr zu sehen. Dann fühlte ich etwas, das mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Sie gebrauchte die alte Macht, um ihm nachzuspüren. Sehr schwach nur, doch irgendwo in meinem Herzen richtete Nachtauge sich auf und fragte: Was ist das?
Nichts. Nichts, was uns anginge. Bald werden wir zusammen jagen, mein Bruder, wie seit langem nicht mehr.
Für ein paar Tage nach dem Aufbruch der Reiterschar konnte ich mich beinahe wieder eines eigenen Lebens erfreuen. Es hatte mir angst gemacht, daß Burrich mit Veritas Bocksburg verließ. Auch wenn ich verstand, was ihn drängte, seinem König-zur-Rechten zu folgen – ich fühlte mich schutzlos, ausgeliefert in ihrer beider Abwesenheit. Diese Tatsache verriet mir einiges über mich selbst, das ich lieber nicht gewußt hätte. Die andere Seite der Medaille war, daß Nachtauge und ich endlich Gelegenheit hatten, nach Lust und Laune von der Macht
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