Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
Gebrauch zu machen. Fast jeder Morgen fand uns auf der Jagd, meilenweit von der Burg entfernt. An den Tagen, wenn wir auf der Suche nach Entfremdeten waren, ritt ich Rußflocke, aber die Stute konnte sich nicht an den Wolf gewöhnen. Nach und nach versiegte zu meiner großen Erleichterung der Zustrom der armseligen Kreaturen, und wir hatten Zeit, uns vierfüßigem Wild zuzuwenden. Dabei verzichtete ich auf ein Reittier, es wäre nur hinderlich gewesen. Nachtauge bemerkte anerkennend, daß meine körperliche Leistungsfähigkeit sich in diesem Sommer erheblich gebessert hätte. Und wirklich, zum erstenmal seit Edels Attentaten auf mich im Bergreich fühlte ich mich wieder gesund und im Vollbesitz meiner Kräfte. Die frühmorgendlichen Jagdausflüge und Nächte mit Molly hätten mir genügt, um mein Leben auszufüllen. Ich war zufrieden.
Es muß der Wunsch gewesen sein, mein Leben möge immer so einfach und überschaubar bleiben, daß ich die Augen vor Dingen verschloß, die mein Idyll zu zerstören drohten. Das andauernd schöne Wetter, sagte ich mir, verhalf Veritas zu einem guten Vorwärtskommen. Ich verdrängte die Tatsache, daß die Roten Korsaren ebenfalls davon profitierten, ausgerechnet, wenn wir auf uns allein angewiesen waren. Des weiteren hielt ich mich von Edel fern und der plötzlichen Häufung gesellschaftlicher Ereignisse, die zur Folge hatten, daß Bocksburg sich mit seinen Parteigängern füllte und in der großen Halle jede Nacht die Fackeln brannten bis zum Morgen. Serene und Justin schienen ganz gegen ihre sonstige Art allgegenwärtig zu sein. Jedesmal, wenn ich einen Raum betrat, in dem sie sich aufhielten, spürte ich die spitzen Pfeile ihrer Abneigung. Ich begann die Gemeinschaftsräume zu meiden, wo ich entweder ihnen begegnete oder Edels Gästen, die sich an unserem zur Winterzeit gewöhnlich so ruhigen Hof eingenistet hatten.
Veritas war kaum zwei Tage fort, da gingen bereits Gerüchte um, er hätte sich aufgemacht, um die Uralten zu suchen. Dafür konnte ich nicht Edel die Schuld geben. Veritas’ Begleiter hatten über den wahren Zweck ihrer Mission Bescheid gewußt. Burrich war es durch eigene Nachforschungen gelungen, ihn herauszufinden. Wenn ihm, dann auch anderen. Doch als ich zwei Küchenjungen über ›König Weises Dummheit und Prinz Veritas’ Märchen‹ lachen hörte, wußte ich, das war Edels Werk. Seit er sich bemühte, mittels der Gabe die Roten Korsaren von unserer Küste fernzuhalten, war Veritas zu einer Art Einsiedler geworden. Die Leute fragten sich, was er tat, so lange allein in seinem Turm. Natürlich wußte man, er machte von der Gabe Gebrauch, aber damit konnte man nichts anfangen. Doch sein abwesender Blick, daß er zu den merkwürdigsten Stunde speiste oder schlief und nächtens lautlos durch die Gänge der Burg geisterte – darüber ließen sich herrlich die wildesten Vermutungen anstellen. Hatte er den Verstand verloren und jagte einem Phantom nach? Die Spekulationen begannen zu wuchern, und Edel sorgte für fruchtbaren Boden. Er fand Anlässe und Gründe für Bankette und Lustbarkeiten. König Listenreich war selten wohl genug, um daran teilzunehmen, und Kettricken hatte nichts übrig für die geschniegelten Prahlhänse, mit denen Edel sich umgab. Ich war klug genug, mich abseits zu halten. Während unten die Wogen hochgingen, saß ich bei Chade und beschwerte mich über die Geldverschwendung, wenn doch nach Edels Angaben kaum Mittel genug vorhanden gewesen waren, um Veritas’ Expedition auszurüsten. Chade schüttelte nur den Kopf.
Mein alter Lehrer war in letzter Zeit selbst mir gegenüber ungewöhnlich verschlossen. Ich hatte das unbehagliche Gefühl, daß er mir etwas verheimlichte. Geheimnisse an sich waren nichts Neues, der alte Assassine steckte bis zum Kragen voller Geheimnisse, nur wurde ich diesmal den Eindruck nicht los, daß es mit mir zu tun hatte. Ich konnte ihn nicht fragen, dafür bemühte ich mich, durch Beobachten etwas herauszufinden. Sein Arbeitstisch zeigte Spuren intensiven Gebrauchs, doch abgesehen von neuen Säureflecken, Brandspuren und Schrammen bekam ich nichts davon zusehen. Bevor er mich rief, schien er darauf bedacht zu sein, mustergültig Ordnung zu schaffen. Seltsam. Jahrelang hatte ich in seiner Giftküche saubergemacht, daß er jetzt eigenhändig aufräumte, war entweder ein stummer Vorwurf an meine Adresse, oder er wollte vor mir verbergen, woran er arbeitete.
Zwar erhielt ich keinen Aufschluß darüber, worum es sich bei
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