Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
seinem Geheimnis handeln könnte, dafür sah ich vieles, was mir zuvor entgangen war. Chade wurde alt. Kälte hatte er nie gut vertragen, doch inzwischen vermochten auch gemütliche Abende am warmen Kaminfeuer nicht mehr die Steifheit aus seinen Gelenken zu vertreiben. Er war Listenreichs älterer Halbbruder, ein Bastard wie ich, und trotz seiner Gebrechen wirkte er immer noch wie der jüngere der beiden. Doch mir fiel auf, daß er beim Lesen die Schriftstücke mit ausgestrecktem Arm von sich weghielt und es vermied, nach etwas über seinem Kopf zu greifen. Die Veränderungen an ihm zu bemerken war nicht weniger schmerzlich, als zu wissen, daß er ein Geheimnis vor mir verbarg.
Dreiundzwanzig Tage nach Veritas’ Aufbruch kam ich vormittags von einer Jagd mit Nachtauge zurück und fand die Burg in Aufruhr. Die Atmosphäre gemahnte an ein aufgestörtes Ameisennest, doch ohne die dort herrschende Zielstrebigkeit. Ich ging auf kürzestem Weg zu Sara, der Köchin, und fragte sie, was geschehen war. Die Küche einer jeden Burg ist im wahrsten Sinn des Wortes auch eine ›Gerüchteküche‹, übertroffen höchstens von der Waschstube. Auf Bocksburg war auf das, was in der Küche gemunkelt wurde, im großen und ganzen mehr Verlaß.
»Ein Reiter ist gekommen, auf einem halbtoten Gaul. Holüber soll angegriffen worden sein. Fast der ganze Ort wurde niedergebrannt. Siebzig Entfremdete, wieviel Tote weiß man noch nicht. Auf jeden Fall werden noch mehr sterben, ohne ein Dach über dem Kopf in dieser Kälte. Drei Korsarenschiffe, sagte der Junge. Er wurde sofort zu Prinz Edel gebracht, um Bericht zu erstatten. Der Prinz hat ihn dann hergeschickt, damit er etwas zu essen bekommt; er ist jetzt in der Wachstube und schläft.« Sie senkte die Stimme: »Der Junge ist den ganzen Weg von Holüber hergeritten, auf der Küstenstraße. Hat sich in den Ortschaften unterwegs frische Pferde geben lassen, wollte aber nicht dulden, daß ein anderer die Schreckensmeldung überbringt. Er hat mir gesagt, immer hätte er damit gerechnet, daß ihm Hilfe entgegenkommt oder daß irgend jemand sagt, man wüßte Bescheid und Schiffe wären unterwegs. Aber nein, gar nichts.«
»Von Holüber? Dann ist es wenigstens fünf Tage her. Warum sind die Signalfeuer nicht entzündet worden?« Ich hatte ein ungutes Gefühl in der Magengrube. »Warum hat man nicht die Alarmvögel nach Skua und der Robbenbucht fliegen lassen? Die Constance kreuzt in den Gewässern, der Ausguck hätte eins der Feuer sehen müssen. Und ein Gabenkundiger, Will, sitzt im Roten Turm. Warum hat er sich nicht mit Serene in Verbindung gesetzt? Wie kommt es, daß kein Wort von dem Überfall bis hierher gedrungen ist, daß wir keine Ahnung gehabt haben?«
Sara dämpfte ihre Stimme noch weiter und gab dem Teig, den sie knetete, einen bedeutungsvollen Klaps. »Der Junge sagt, die Feuer wurden angezündet, in Holüber und in Eisstadt. Er sagt, die Vögel sind nach Skua geflogen. Das Schiff ist nicht gekommen.«
»Warum haben wir dann nichts erfahren?« Ich holte tief Atem und beherrschte meinen fruchtlosen Zorn. Tief in mir spürte ich eine schwache Regung von Veritas. Zu schwach. Ausgerechnet jetzt, wenn ich mir wünschte, mit ihm beratschlagen zu können. »Nun, Fragen zu stellen hilft jetzt nicht. Was hat Edel getan? Der Rurisk befohlen, auszulaufen? Ich wünschte, ich wäre rechtzeitig hier gewesen, um mit hinauszufahren.«
Sara schnaufte und würgte den Teig mit beiden Händen. »Wenn du jetzt gehst, kommst du immer noch zur rechten Zeit. Kein Schiff ist ausgelaufen, keine Soldaten reiten. Es wurde nichts unternommen, und es wird nichts unternommen, so steht es. Du weißt, ich habe nichts übrig für Gerede, aber hinter der vorgehaltenen Hand wird geflüstert, Prinz Edel hätte Bescheid gewußt. Als der Junge kam, oh, der Prinz wußte sich nicht zu lassen vor Güte, vor Mitgefühl, er rührte die Damen zu Tränen. Essen, ein neues Wams, ein kleiner Beutel für seine Mühe. Aber er sagte dem Jungen, es wäre jetzt zu spät, die Korsaren längst in der Weite des Meeres verschwunden. Wozu noch ein Schiff aussenden oder Militär.«
»Zu spät vielleicht, um die Piraten zu verfolgen. Aber was ist mit den Bürgern von Holüber? Arbeiter, die bei den Aufräumungsarbeiten helfen, einige Wagenladungen mit Lebensmitteln…«
»Unser Prinz sagte, dafür wäre kein Geld vorhanden.« Sara stieß jedes Wort einzeln hervor. Sie fing an, den Teig in Portionen aufzuteilen und die Bällchen zum
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