Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
die Wahrheit erkennen können. Ich sehnte mich danach, aufzustehen, zu ihr hinzugehen, sie in die Arme zu schließen, aber ich wußte, ich würde torkeln, schwanken, vielleicht hinfallen. Nein, ich wollte ihr nicht wieder so ein erbärmliches Schauspiel bieten und sie in ihrem Glauben bestärken, ich sei betrunken.
»Viele Mädchen und Frauen ließen sich die Zukunft vorhersagen, aber ich hatte keinen Heller, deshalb konnte ich nur zuschauen. Doch nach einer Weile bemerkte mich der alte Mann. Ich nehme an, er dachte, ich wäre schüchtern. Er fragte mich, ob ich nichts über meine Zukunft erfahren wollte, und ich fing an zu weinen, denn ich hatte doch den Heller nicht. Dann lachte Brinna, das Fischweib, und sagte, ich könnte mir das Geld sparen. Alle Welt wußte, wie meine Zukunft aussah. Ich war die Tochter eines Säufers, ich würde die Frau eines Säufers sein und die Mutter von Säufern.« Ihre Stimme brach, sie atmete tief ein. »Alle fingen an zu lachen. Sogar der alte Mann.«
»Molly«, sagte ich, aber sie hörte mich gar nicht.
»Ich habe immer noch keinen Heller«, fuhr sie leise fort. »Aber eines weiß ich genau, ich werde nie die Frau eines Säufers sein. Und ich glaube, ich möchte auch keinen zum Freund haben.«
»Du mußt mir zuhören. Du bist ungerecht!« Meine verräterische Zunge gehorchte mir nicht. »Ich…«
Die Tür schlug zu.
»… wußte nicht, was du für mich empfunden hast.« Die Worte erstarben in dem leeren, kalten Zimmer.
Dann überfiel mich der Schüttelfrost mit voller Gewalt, aber diesmal wollte ich sie nicht so ohne weiteres gehen lassen. Ich stand auf und kam zwei Schritte weit, bevor der Boden unter mir krängte wie ein Schiff auf stürmischer See und ich auf die Knie fiel. Eine Zeitlang verharrte ich so, mit hängendem Kopf, wie ein Hund. Ich glaubte nicht, daß es sie beeindruckte, wenn ich ihr hinterhergekrochen kam, viel eher handelte ich mir einen Fußtritt ein. Vorausgesetzt, es gelang mir überhaupt, sie zu finden. Statt dessen kroch ich zu meinem Bett zurück und kletterte hinein. Die Kleider behielt ich an und zog nur die Decke über mich. Ein dichter schwarzer Schleier senkte sich über meine Augen, aber ich schlief nicht gleich ein, sondern lag wach und dachte über den letzten Sommer nach. Wie dumm ich gewesen war. Ich hatte einer Frau den Hof gemacht und geglaubt, ich ginge mit einem Mädchen spazieren. Diese drei Jahre Altersunterschied – ich war überzeugt gewesen, daß sie in mir nur den Jungen sah und ich sie nie gewinnen konnte. Deshalb hatte ich mich benommen wie ein Junge und gar nicht erst den Versuch gemacht, ihr als Mann gegenüberzutreten. Und der Junge hatte sie verletzt und ja, sie getäuscht und aller Wahrscheinlichkeit nach ihre Liebe unwiderruflich verloren. Die Dunkelheit senkte sich herab, Schwärze überall, bis auf einen winzigen und vielleicht trügerischen Lichtblick.
Sie hatte den Jungen geliebt und eine gemeinsame Zukunft für uns vorausgesehen. Ich klammerte mich an diesen Lichtblick und sank in tiefen Schlummer.
KAPITEL 4
ZWICKMÜHLEN
In bezug auf die alte Macht und die Gabe vermute ich, daß jeder Mensch ein gewisses Maß dieser Fähigkeiten besitzt. Ich habe erlebt, wie Frauen unvermittelt eine Arbeit aus der Hand legten, um ins Nebenzimmer zu gehen, wo der Säugling Anstalten machte, aus dem Schlummer zu erwachen. Handelt es sich dabei nicht vielleicht um eine Form der Gabe? Oder man betrachtet die wortlose Zusammenarbeit innerhalb einer Mannschaft, die schon lange Jahre auf demselben Schiff fährt. Sie bildet eine Einheit, wie eine Kordiale, so daß das Schiff fast ein Lebewesen zu sein scheint und die Besatzung seine Seele. Andere Menschen fühlen sich bestimmten Tieren verbunden und bringen das durch ein Wappen zum Ausdruck oder durch die Namen, die sie ihren Kindern geben. Dabei handelt es sich um eine Äußerung der alten Macht. Die alte Macht öffnet die Sinne für die gesamte Tierwelt, wenn auch der Volksmund behauptet, daß die meisten Ausübenden der Macht im Lauf der Zeit eine Bindung zu einem ganz bestimmten Tier entwickeln. Manche Geschichten erzählen, daß Wissende erst die Lebensweise und schließlich die Gestalt des Tieres annehmen, dem sie sich verschwistert haben. Diese Aussage kann man, glaube ich, getrost als Schauermärchen abtun, die erfunden wurden, um Kindern Furcht vor der Tiermagie einzujagen.
Ich erwachte am Nachmittag. Es war kalt. Kein Feuer im Kamin. Die verschwitzten Kleider klebten an
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